Es war von Anfang an klar, dass das mit uns keine Zukunft haben würde. Ich sitze auf meinem Hostelfeldbett und drücke meinen Rücken an die warme Backsteinmauer. Meine letzte Nacht mit New York City. Kratzige Filzdecke statt Satin. Wir hatten eine atemlose Affäre, die Stadt und ich. Erschöpfend. Fordernd. „Alle wirklich guten Dinge sind anstrengend, weil sie leidenschaftlich sind“, hat mal jemand zu mir gesagt. Genauso ist New York City. 

Anfangs gab es kleine Kommunikationsprobleme zwischen uns. Natürlich ist es sinnlos, eine Wochenkarte für 29 Dollar zu kaufen, wenn die Fahrt mit den wenigen post-hurrikanisch laufenden U-Bahnen kostenlos ist. Aber das hätte mir New York echt mal früher sagen können.

„Heute ist es kostenlos, Miss“, höre ich die Polizistin, die noch automatenwarme Metrocard in meiner Hand. Mein „It’s like rain on your wedding day… It’s a free ride when you already paid…“ versinkt im kreischenden Rattern des einfahrenden Zuges. Der übrigens genauso aussieht, als würde gleich Gary Sinise auf Verbrecherjagd herausspringen. Von diesen Déjà-Vu-Momenten erlebe ich viele in New York; aber Filmkulisse ist ja auch offizieller Nebenjob, gleich nach Projektionsfläche für jede Art von Traum.

Die U-Bahnfahrt über die Williamsburg Bridge gewährt mir einen Blick auf die Skyline Manhattans und ich beiße mir staunend auf die Unterlippe. Regungslose Gesichter der anderen Menschen, man wird wohl immun gegen diese Art von Zauber.

In New York City hat jeder alles schon gesehen

Delancey Street. Ein Typ steigt ein, vielleicht 15, 16. Er trägt Baggypants und eine Pappschachtel voller Snickers. Kids in New York City verticken keine Drogen, sondern Schokolade. Darauf fußt auch ihr Marketingkonzept: „… um nicht auf der Straße zu landen, um auf anständige Art Geld zu verdienen“, deklamiert er mit brüchiger Stimme. Es klappt. Eine ältere Dame mit Hispanisch-Hintergrund schräg gegenüber kramt aus ihrer abgewetzten Fake-Vuittontasche einen Dollar, ein Jungdynamiker zieht mit glatter Geste seine Geldklammer aus der Hemdtasche. New York ist nicht die abgestumpfte Kaltschnauze, die ich vermutet habe.

Aber unverfroren charmant. Wie der maximal 12-Jährige mit der schrägsitzenden Käppi, der verbotenerweise zwischen den Waggons durchgeht, mich anzwinkert und mir dann eine Kusshand zuwirft. Ich bin erst perplex und muss dann so laut lachen, dass mich die Mitfahrenden anschauen. Aber nur kurz. Das ist New York City, man hat hier schon alles gesehen. Im Zweifel hier, in der U-Bahn.

Der eigentliche Schmelztiegel ist die U-Bahn

Denn wie verschieden die New Yorker auch sein mögen – dies ist der Ort, an dem sie sich zwangsläufig begegnen. Adipositaspatienten in fleckigen XXXL-Pullis, die mit glänzenden Lippen Chickenwings ablutschen, neben hauchdünnen Models mit albernen Pudelmützen und teuren Taschen; grimmige LL-Cool-J-Lookalikes in Kapuzenhoodies neben schnauzbärtigen Gay-Hipstern in Skinnyjeans; abgearbeitete alte Ladys mit sorgsam onduliertem Haar neben kaugummischmatzenden Latinas in fuchsiafarbenen Nicki-Jogginganzügen; nervös ihre Tablets befingernde Businessboys in braunen Anzügen neben orthodoxen Juden mit Locken, Hut und Taschenuhr – jede Nuance des menschlichen Seins und alle vorstellbaren Schnittmengen.

Und weil eben fast jeder irgendwann mal hier angekommen ist und auf Unterstützung angewiesen war, sind die New Yorker eben doch zuvorkommend und solidarisch.

So haben mir New Yorker geholfen

Wie mein Airbnb-Gastgeber Mike, der mich nach Tagen ohne Strom und Heizung in der Wohnung einer Freundin heiß duschen lässt. Oder Eugene mit dem fleecedeckesanften Blick, der mich an meinem dritten Tag auf der Suche nach dem Shuttlebus durch Manhattan irrend aufliest, mich persönlich zum gesuchten Umsteigebahnhof auf der Brooklynseite bringt und winkt, als ich in den Waggon steige. Wie die Frau bei Starbucks, die mein iPhone an ihrem Kabel laden lässt; wie Betty, die mir in der zweiten Couchsurfing-Nacht ihr dauniges Bett anbietet und zu Lucy ausweicht, weil ich so erschöpft bin.

Wie die alte Inderin, die ihre Metrcocard zückt, als ich kein passendes Kleingeld für den Bus dabei habe; der Quarterback-Typ, der einfach so seine Metrocard für mich swiped, weil es am Bahnhof Morgan Ave keinen Fahrkartenautomaten gibt; die dominikanische Hotelangestellte, die mir im A-Train auf Spanisch den Weg zum Flughafen erklärt und mich sicherheitshalber gleich bis zur Bushaltestelle begleitet; der Saxophonist, der mir ein Taschentuch reicht, als sein Lied mich vor Rührung weinen lässt und überhaupt wie all die Menschen, die mich freundlich ansprechen, wenn ich länger als zwei Minuten über meinem Stadtplan rätselnd rumstehe. So herzenswarm kann New York sein. Das ist die eine Seite.

Satan am Kugelgrill

Ich ziehe meine harte Hosteldecke fester um mich, als ich an die Wallstreet denke. Dort ist es gefühlt ein Grad kälter als im Rest der Stadt, und das liegt nur zum Teil an den sonnenlichtschluckenden Wolkenkratzern. Das Zentrum der Finanzmacht ist öde, unbelebt. Kein Glamour, kein Kitzel. Ein bisschen Hamburgs City Nord, nur kleiner. „Es ist alles viel unspektakulärer als ich gedacht habe“, konstatiert die charmante Österreicherin beim Hostelfrühstück. „Ja, so als käme man in Erwartung eines riesigen Fegefeuers in die Hölle und dann steht da Satan am Kugelgrill und dreht Würstchen um.“

In Echt steht Satan vor dem Eingang der New Yorker Börse und telefoniert, eine Mischung aus Robert Downey Jr. und Hugh Grant und kein Stück Al Pacino. Er hat den Kragen seines dunkelblauen Anzugs hochgeklappt – ein erbärmlicher Versuch, die schneidenden Böen abzuschirmen. Als Zugeständnis an den Casual Friday trägt der moderne Mephisto schwarze Sneakers. SO  sehen also diese Typen aus, die mit ihrer Gier das weltweite Wirtschaftssystem zerfressen. Ich lege alle Vorwurfskraft in meinen Blick. Als er merkt, dass ich ihn beobachte, zwinkert er mir zu. „Du kannst nicht alles kaufen“, rotze ich ihm entgegen und wende mich angewidert ab.

[Lest auch: Alleine reisen als Frau – wie (un)gefährlich ist es wirklich?]

Mitten im noblen Chelsea komme ich an den Fulton Houses vorbei. Sozialer Wohnungsbau. Vor graubraunen Hochhäusern mit Softdrinkbecherhaufen auf den welken Grasflächen stehen Gestalten in einer Schlange für Essenspakete an; im Schaufenster eines Kiosks steht in krakeliger Schrift auf gelber Pappe „Wir akzeptieren Lebensmittelmarken“. Und keine 200 Meter Luftlinie weiter, im „The Lobster Place“ im Chelsea Market, häufen Grüppchen heiterer Geschäftsleute schwindelerregende Hummerschalenberge auf Silberplatten an.

Regeln? Hier nicht

So läuft das. New York küsst dich sachte auf den Mund und boxt dich dann in den Bauch. Ambivalenz an der Grenze zum Bipolaren.

Doch egal ob arm oder reich – eine Kleinigkeit ist allen New Yorkern gemein: Ihre Kühnheit im Straßenverkehr. Rot gilt für Fußgänger maximal als unaufdringliche Empfehlung. Der New Yorker ignoriert Ampeln, sie halten nur auf. Das geht sogar so weit, dass Passanten im Pulk bei Rot die Straße überqueren und Autos zum Anhalten zwingen.

Es ist aber nicht so, dass New Yorker rote Ampeln vor den Augen von Kindern überqueren.

Oh, nein.

Sie überqueren sie MIT den Kindern.

Wer also bei Rot stehenbleibt, outet sich als Fremder – eins der wenigen unmittelbaren Erkennungskriterien für Nicht-New-Yorker. Optisch nämlich lässt sich niemand diesem Schmelztiegel zuordnen. Schon gar nicht der Hipster. Auch, wenn er das gern hätte. Die uniformierten Individualisten pilgern aus aller Welt nach New York City, wie Katholiken nach Lourdes. Genauer gesagt nach Williamsburg, dem Kreißsaal des Hipstertums. Hier ist auch mein Hostel.

Beim Einkaufen im Lebensmittelmarkt nebenan zerbrechen sich Mädchen in senffarbenen Oma-Strickjacken mit Steve-Urkel-Brillen und samtenen Leopardenleggins die bezopfkranzten Köpfe darüber, welche der 27 veganen Eissorten sie in ihren Jutebeutel legen wollen. Ich greife mit meinem Funktionsjackenarm an ihnen vorbei zur Bierflasche und grinse wehmütig. Noch ist es cool hier an der Grenze zu Bushwick, aber nicht mehr lange. Der Gentrifizierungsprozess läuft. Und  ist abgeschlossen, wenn die Leute das Gefühl haben, der Stadtteil wäre sicher genug zum Nestbau. Das Böse kommt mit den Biomärkten und triumphiert mit den Spielzeugläden. Wenn Starbucks auftaucht, ist der Ort längst verbrannt und von den Hipstern mit den kunstvoll auf Bandshirts arrangierten Flecken und akkurat gesetzten Laufmaschen zeugt nur noch das vegane Café. So lief es im East Village, in Dumbo, im Schanzenviertel und im Prenzlauer Berg. Überall.

Es war schön mit dir, New York City

Ich gähne mit brennenden Augen, ich kenne diese Müdigkeit inzwischen. New York ist ein inspirierender Krafträuber, ein unersättlicher, manischer Liebhaber mit ADHS und Neurosentattoo. Absolut mitreißend für ein paar Tage, aber kein Typ für immer.

Unser Abschied ist so cool wie das Loft, in dem ich seit einer Woche schlafe. Ich drehe mich zur Seite. Durch meine Ohropax kratzt von rechts dumpf der Klang experimenteller E-Gitarrenmusik, von links piercen Piepsstimmen asiatischer Teenager mein Trommelfell, jemand schnarcht die Baseline. Gute Nacht, New York City, es war schön mit dir. Noch ein letzter kühler Kuss.

Als wir endlich einschlafen, löffeln wir nicht.


PS: Ich bin freie Journalistin, Autorin und Studierende und das Betreiben dieses Blögchens kostet – genau wie alles andere im Leben – ein wenig Geld. Wer also mag, kann hier via Paypal ein bisschen Trink-, äh, Schreibgeld dalassen. Dankeschön! <3

 

Startseite » Blogposts » Reisen » Meine Affäre mit New York City