„Hier, nimm das. Dann wirst du dich sicherer fühlen.“ Die Bedienung drückt mir etwas Schweres, Glattes in die Hand und hält meinen Blick fest. Als ich die Finger öffne, ruht da ein Taschenmesser mit Perlmuttgriff. Das brauche ich zum Couchsurfing.

Wir kennen uns keine fünfzehn Minuten, das runde Mädchen mit der Affenstrickmütze und ich, aber in ihren Augen liegt echte Sorge. Mein Magen wird flau. Ich spüre, dass sie Recht hat. „Du kannst auch bei mir übernachten, wenn du magst. Du solltest definitiv nicht dahin zurückgehen. Der Typ ist verdammt noch mal creepy.“

„The creepy guy“ – das ist der Couchsurfer, bei dem ich in New Orleans bleiben wollte. Und jetzt nippe ich im Royal Blend Café an meinem Cappuccino, weiß nicht wohin und erzähle einer Fremden meine Story:

Es ist schon dunkel, als ich vor seinem weißen Holzhaus aus dem Taxi steige. Er kommt mir entgegen, drückt mich zu Begrüßung so fest, dass mir kurz die Luft wegbleibt und hievt dann mit einer Hand meinen Rucksack die fünf Stufen zur Eingangstür hoch. Ein großer Mann, locker über 1,90 Meter und weit über 40, mit rötlichbraunem Bürstenhaarschnitt, Brille, Khakishorts, langen Gliedmaßen und einer unproportional fülligen Körpermitte. Aus seinen wulstigen Lippen kullern unablässig Worte, seine Witze flankiert er mit dröhnendem Gelächter. Er teilt sein „Abendessen“ mit mir – kalte Pasta mit Dosenlachs, Tütenparmesanpulver und Salatdressing. Während wir essen, erzählt er von den letzten Couchsurfern – „ein paar Leute aus Belgien“ – und führt mich dann im Haus herum. Küche, Bad, Wohnzimmer.

Und da passiert es.

War das nur ein Spaß? Bilde ich mir das ein?

Er steht vor mir, erklärt mir die Heizung. „Die Heizung befindet sich im Grunde genommen IM Boden.“ Ich frage müdigkeitstumb: „Wo?“ Mit einer flinken Bewegung packt er meinen Zopf und zieht meinen Kopf Richtung Boden. So schnell wie ein Wimpernschlag. „Da, IM Boden. Wie ich gesagt habe.“ Seine Stimme ist sanft, die Geste brutal. Er hat meine Haare losgelassen, plaudert schon wieder von alten Gasthermen. Ich höre ihn kaum. Mein Herz klopft so heftig, dass ich es im ganzen Rumpf spüre.

Ist das da gerade wirklich passiert?
Was ist da eigentlich passiert?
War das ein Spaß, den ich bloß nicht verstanden habe?
Bin ich humorlos und hysterisch?

Auf einmal stehen wir im Bad – ich weiß nicht, wie wir da hingekommen sind – er spricht immer noch über die Heizung. Verwirrt fixiere ich den Spiegel, richte meinen Zopf. Dann greift er von hinten in mein Haar. „Don’t worry, you look pretty.“ Diesmal reagiere ich: „Stopp! Nicht in meine Haare!“ Verwundert stelle ich fest, dass ich in meine Muttersprache fliehe. „Was auch immer du da grad gesagt hast“, säuselt er und schlendert ins Wohnzimmer. „Ich sagte: Lass das. Das gefällt mir nicht“, nuschele ich ihm auf Englisch hinterher.

Ich fühle mich innerlich gelähmt

Er lacht gedämpft, lässt sich in eine Kuhle auf seiner tannengrünen Ledercouch plumpsen und positioniert ein iPad auf seinen blassen Knien. Mit seiner Pranke patscht er auf den freien Platz zu seiner linken: „Setz‘ dich doch mal neben mich, kleines Mädchen. Ich werde dich schon nicht belästigen. Obwohl… keine Versprechen.“

Ich gefriere innerlich, dann bewege ich mich in Zeitlupe in seine Richtung. Ich fühle mich beklommen, aber ich will kein unhöflicher Gast sein. Das ist immerhin Couchsurfing, man ist nett zueinander. Vielleicht verstehe ich auch nur seinen Humor nicht. Also setze ich mich. Mit zusammengepresstem Körper und so weit von ihm weg, dass ich gerade noch einen Blick auf die Umgebungskarte werfen kann. Er plappert von Parks und Bussen und Streetcars und hinter meiner Stirn pulsiert nur ein Gedanke: Falsch. Das hier ist falsch. „Tut mir leid, aber ich bin echt müde“, gähne ich. Bloß weg von ihm. Er wünscht mir eine gute Nacht, und ich verschwinde ins Gästezimmer, direkt ins Bett, ohne Zähne zu putzen. Es ist noch nicht mal 21 Uhr. Die Tür hat sich verzogen und lässt sich nicht richtig schließen. Ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. So habe ich mir Couchsurfing nicht vorgestellt.

Warum habe ich nicht reagiert?

Am nächsten Morgen summt sein Rasierer im Badezimmer. Küchenschranktüren klappern, Schritte poltern über den knarrenden Holzboden. Ich liege im Bett und halte mich an meinem iPhone fest. Seit wann habe ich Schwierigkeiten damit, einen Idioten in seine Schranken zu weisen?

Es ist die Abhängigkeit des Gastes vom Gastgeber, das Machtgefüge. Und die doppelte Ebene. Ist jemand ein offenkundiges Arschloch, kann man ihm entsprechend begegnen. Aber ist jemand vordergründig freundlich und zuvorkommend und plötzlich einen Fingerschnips lang übergriffig, zweifelt man an seiner Wahrnehmung. Wie das Bild einer Abscheulichkeit, das für einen Sekundenbruchteil in eine Komödie geschnitten wurde und das man meint, nicht gesehen haben zu können. Perfide.

Die Haustür rummst ins Schloss, er ist weg. Sicherheitshalber warte ich noch eine halbe Stunde, bevor ich mich raustraue. Im Badezimmer bleibt mein Blick beim Zähneputzen am Duschvorhang hängen, die untere Hälfte ist mit roten Spritzern übersät. Meine Fantasie explodiert: Entweder ist der Typ ein Serienkiller und hat nur deshalb so viele gute Bewertungen beim Couchsurfing, weil jeder, der etwas anderes sagen würde, in seinem Garten verscharrt liegt. Oder das Zeug ist Farbe, Schminke, was auch immer, und der Typ ist bloß extrem unsauber. In beiden Fällen will ich hier weg. Sofort.

Aber wohin?

Manchmal hat man tatsächlich Glück

Den Vormittag verbringe ich in dem muffigen Zimmer damit, fieberhaft nach einer Unterkunft zu googeln. Nirgendwo Vakanzen. Scheiß drauf – ich will hier raus, der Rest wird sich irgendwie finden. Mit der historischen Straßenbahn tuckere ich ins French Quarter. Auf der Suche nach Wifi stolpere ich schließlich ins Royal Blend.

Und jetzt stehe ich hier mit einem lauwarmen Cappuccino und einem Messer in der Hand. Ich lasse es in meine Handtasche gleiten, wir sind in New Orleans und hier weiß man ja nie.

„Ja, ich glaube, das werde ich tun. Ich danke dir so sehr.“ Ich stürze mich auf Cates Angebot, klammere mich an jeden Buchstaben, den sie lächelnd mit einem Kuli auf den Papierfetzen aus meinem Block kritzelt. Sie wohnt in Tulane, nur zehn Fußminuten vom „Creepy Guy“ entfernt.

Ich fühle mich erleichtert

Wissend, dass ich heute Nacht nicht in einer Badewanne in mundgerechte Stückchen zerteilt oder gar am Kopf betatscht werde, lässt mich erleichtert durchs French Quarter bummeln. Und jetzt nehme ich zu ersten Mal wahr, wie entzückend es ist mit den verzierten Giebeln, gusseisernen Balkongittern und historischen Schildern. Das flaue Gefühl in meinem Magen nutzt die Gelegenheit und geht in nagenden Hunger über. Und so esse ich im touristenüberlaufenen Ex-Geheimtipp „Coop’s Place“ meine erste Jambalaya. Mit der Schärfe verteilt sich auch die Zuversicht in mir.

„Hi. Du siehst zufrieden aus. Das gefällt mir.“ Unter einem Haufen Dreadlocks gucken mich zwei lachfältchenumkränzte graue Augen an. Er heißt Andy, ist Anfang 50, Brite, Regisseur und lebt seit Jahrzehnten in Los Angeles. Derzeit allerdings ist er, natürlich nur vorübergehend, Fahrer eines Promotiontrucks für „Papst Blue Ribbon“ – einer Plörre, neben der Bud Light wie Starkbier wirkt. Anders: Das Zeug ist schlimmer als Kölsch.

Mein Taxi? Ein Biertruck

An den Hälsen unserer Becksflaschen vorbei unterhalten wir uns über Lieblingsfilme, Amis und Europäer und Bier. Als ich ihm schließlich vom „Creepy Guy“ erzähle, werden seine Lach- zu Zornesfältchen: „Du gehst so was von NICHT dahin zurück – wenn, dann nur um deine Sachen abzuholen und zu verschwinden.“

Keine zehn Minuten später quetschen wir uns in seinem fetten, leuchtenden „PBR“-Truck durch die schmalen Straßen eines Wohngebiets in New Orleans, bis wir vor dem Haus des „Creepy Guys“ ankommen. Drinnen brennt Licht, ich fummle mit zitternden Fingern den Schlüssel aus dem Portemonnaie. Andy wartet Draußen.

Mit fliegenden Armen raffe ich mein Zeug zusammen, stopfe es in den Rucksack. Als ich das Haus verlasse, renne ich.

Cate linst durch den Türspalt. „Oh, du kommst in einem Biertruck hier an! Wie … stilvoll.“ Hinter ihr präsentiert sich pures Chaos. Kisten, Klamotten, Gläser, Zeitschriften, Pizzakartons. Kenne ich schon vom Couchsurfing aus Brooklyn.

Wodka und Voodoo

Cate teilt sich das Haus mit drei anderen Leuten und Kater Rufus. Als ich sie auf dessen Ähnlichkeit mit Hitler aufmerksam mache, lacht sie glockenhell. „Du machst Hitler-Witze. Das gefällt mir.“ Wir lassen uns auf das Tagesbett mit der Putin-und-Bush-Wolldecke plumpsen. Mein Blick fällt auf ein Regal, das mit Blumen, Rumflaschen, Kerzen und Fotos überladen ist. „Ich praktiziere Haitianischen Voodoo. Ich hoffe, du bist nicht religiös.“ Ich pruste los. Könnte kaum jemand Unreligiöseres geben. Ihre Mitbewohnerin Heather kommt von ihrem Job in einem Süßigkeitenladen nach Hause. Sie hat Wodka dabei, den wir umgehend in fleckige Gläser kippen. Couchsurfing auf improvisiertem Wege.

Und so kommt es, dass wir eine halbe Stunde später zu dritt „Moskau, Moskau“ grölen – zwei Mädchen Mitte Zwanzig aus Detroit und ich. In New Orleans. Cate und Heather in fehlerfreiem Deutsch, ich nuschle wegen des Wodkas. Die zwei sind zu meinem Erstaunen echte, überzeugte Eurovision Song Contest Fans.

Und ich glaube, DAS ist von allem hier bisher das Unheimlichste.

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