Sie fliehen vor der Musik. Der weißhaarige Klarinettist, ein Cousin Gandalfs in Lederjacke, kichert vorm Café Beignet dem davoneilenden Pärchen hinterher. „Einwohner. Sie haben manchmal einfach die Schnauze voll von der ganzen Musik und rennen weg.“ Kann mir nicht passieren. Wegen Jazz und Swing und Blues und so bin ich doch in New Orleans. 

Die Töne seiner Klarinette schieben mich an den Antiquitätengeschäften und Juwelierläden der Royal Street im French Quarter vorbei, bis mich der nächste Sound einfängt: Bluegrass, das volle Programm inklusive Banjo, Waschbrett und Latzhosen. Den Zuschauern auf den abendsonnenwarmen Steinstufen des Louisana Supreme Courts scheint das frenetische Quäken der vollbärtigen „Drunken Catfish Ramblers“ zuzusagen – der Holzzuber ist voll mit Dollarscheinen.

Die Musik, jetzt eine zart schluchzende Geige, lockt mich weiter durch das „Vieux Carré“. Das alte Viertel mit den alten Geschichten. Wie die des deutschen Schlachters Hans Müller, der vor langer Zeit seine Frau im Suff erschlagen, durch den Fleischwolf gedreht und zu Wurstwaren verarbeitet haben soll. Oder die des Ehepaars Lalaurie, das in seinem Anwesen jahrelang Sklaven grausam gefoltert und getötet hat. 1834 offenbarte während eines rauschenden Festes ein Feuer ihre Gräueltaten. Die mir in meinem teuren aber fensterlosen Hotelzimmer übrigens schlaflose Nächte bereiten.

Gruselgefühl und ein echter Vampir

Morbidität vibriert in der lauen Luft von New Orleans. Weniger ausagiert und elegant als in Venedig, dennoch stets präsent. Und eine Ahnung von Gefahr. Nicht nur wegen der hohen Kriminalitätsrate, eine der höchsten in den USA. Da ist noch etwas anderes, Ungreifbares. Das Flackern antiker Gaslaternen glimmt in der einsetzenden Dämmerung auf, andere Straßenbeleuchtung gibt es nicht. Ich biege in eine Seitenstraße, außer mir ist niemand hier. Die Geige ist verstummt, es ist ungewohnt still. Nur entfernte Hufschläge werden langsam hörbar, bis auf dem alten Pflaster ein weißer Einspänner an mir vorbeirollt. Leises Klirren. Ich schaue zu einem der schmiedeeisernen Balkone mit filigranen Verzierungen  hoch und erwarte fast, Lestat und Louis mir über die wuchernden Farne hinweg mit einem Glas rubinroter Flüssigkeit zuprosten zu sehen. Wie albern ich doch bin! Ich lache mich aus.

Und dann begegnet mir wirklich ein Vampir.

Ich habe ihn nicht kommen sehen, aber das liegt sicher daran, dass ich nach oben geguckt habe. Er sieht ganz anders aus als alle Vampir-Variationen, die mir Film und Fernsehen je geboten haben. Kein Brad Pitt, kein Gary Oldman, kein Wesley Snipes, kein Robert Pattinson. Kein Ledermantel, kein Zylinder, kein Glitzersixpack. Au contraire: Der untersetzte Typ, der mir da entgegenkommt, trägt ein bis oben hin zugeknöpftes schwarzes Hemd mit langen Ärmeln, das um den Bauch spannt, und einen Zopf. Den Bart im Henriquatre-Stil in seinem teigigen Gesicht sorgfältig getrimmt. Unter der Krempe seines Cowboyhutes blicken mich zwei kajalbemalte Augen an. So hellblau, dass sie fast weiß sind. Er lächelt kalt – und entblößt dabei spitz gefeilte Eckzähne. Keine Frage: Ein Vampir.

„Was ist der Zauber von New Orleans?“ habe ich Cate gefragt. „Nun, wir akzeptieren einfach jeden und alles.“ Ja, auch moppelige Cowboy-Vampire.

„Du hast Angst vor dem Tod“

Aus einem vorbeicruisenden weißen Mercedes Cabrio pumpen die Boxen harte HipHop-Bässe. Ich bin wieder in New Orleans 2012. Und am Jackson Square. Hier bieten tagsüber Künstler ihre Werke und abends Kartenleger ihre Dienste an: „Psychic Readings“. Das ganze Viertel ist gesprenkelt mit seriösen und albernen Voodoo-Shops. Voodoo gehört zu New Orleans wie Jazz, Frittiertes und Alligatorenfleisch am Stiel. „Wir sind sehr spirituell“, hatte mir Cate erklärt.

Inzwischen ist es fast dunkel. An einem Klapptisch mit violetter Samtdecke sitzt eine zierliche schwarze Frau. Wir kommen irgendwie ins Gespräch, ich lasse mich hinreißen. Sie sagt viel in diesen fünfzehn Minuten, ich sage wenig. „Du bist ziemlich zäh.“ Ich muss grinsen. Sieht man mir das so deutlich an? „Du hast eine sehr unabhängige Energie, aber du hast trotzdem keine Angst, dich zu binden und hinzugeben.“ Stimmt. Ihre leuchtenden Augen starren an mir vorbei ins Dunkle, sie blinzelt kein einziges Mal und senkt ihre Stimme. „Du musst lernen, loszulassen. Du kannst nicht alles kontrollieren oder beeinflussen. Manches liegt nicht in deiner Macht.“ Beiderseitiges Schweigen. Sie fängt meinen leeren Blick auf und schaut mir so tief in die Augen, dass ich mich nackt fühle. „Manche Dinge brauchen einfach Zeit. Du glaubst, du hättest nicht genug Zeit. Du hast Angst. Angst vor dem Tod.“

Die letzte Silbe schneidet durch die Dunkelheit. Meine Kehle wird eng. Ich bedanke mich flüchtig, zahle und eile davon. Während meine Füße zügig ins Irgendwo gehen, schlägt mein Herz im Untakt. Was für eine Freakshow.

Bourbon Street ist wie Reeperbahn

Decatur Street. Licht. Leben. In den zahlreichen Souvenirshops kann der bezechte Tourist zu überlauten David-Guetta-Beats alles kaufen, was ihn an New Orleans erinnert – knappe „Who dat?“-Shorts, Suff-Slogan-Shirts. Konsequent kommerzieller ist im French Quarter nur noch die Bourbon Street, die kreolische kleine Schwester der Reeperbahn. Unter dem Licht der Leuchtreklame für „Hurricane“-Cocktails aus saxophonförmigen Plastikbechern, Winesmoothies, Daiquiris und Pizza räkeln sich hier pummelige Prostituierte in neonfarbenen Stretchbadeanzügen unmotiviert zu Charthits.

Koberer locken Betrunkene in „Gentlemen’s Clubs“. Immer wieder halbnackte „Tits for Tips“-Girls. Und das „Rat Hole“ ist nicht nur in Punkto Öffnungszeiten das Pendant zum „Goldenen Handschuh“ – auf der Bourbon Street fühle ich mich auf herbe Weise daheim. Als ich meinen Freunden in New Orleans sentimental die Reeperbahn beschreibe, ächzen sie entgeistert: „O Gott, so etwas Unangenehmes wie die Bourbon Street existiert woanders, und auch noch größer?“

Jazz und Swing wohnen in New Orleans

Ich quetsche mich an den letzten freien Platz an der Theke des „Spotted Cat“-Jazzclubs. Hier in der Frenchmen Street reihen sich authentische, gemäßigtere Etablissements wie „d.b.a.“ oder „Blue Nile“ aneinander. Die Sängerin hat eine dunkelrote Stoffrose in ihren aschblonden Wasserwellen. Ich komme mir vor wie in einem 30er-Film, bin dafür jedoch ganz falsch angezogen. Damals war noch nicht mal der Opa des bartlosen Jünglings am Kontrabass geboren, aber ich habe nie jemanden so ekstatisch den Bass beackern sehen. Die Band spielt treibenden Swing und die Gäste, zeitgemäß gestylt, tanzen oldschool und johlen. Wirklich – sie johlen. Ich bestelle an der Bar enthusiasmiert für 5 Dollar ein Miller und einen Shot Jameson. Das trinkt man hier so. Und dann johle ich mit.

Den Schnaps gebe ich dem älteren Herrn neben mir, den letzten Schluck Bier lasse ich stehen, ich bin um zehn mit meinen einheimischen Freunden Kelly, Heather und Cate im „Checkpoint Charlie“ verabredet. Da ist montags immer Karaoke Night. Die beste Zuflucht vor guter Musik.

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