Ich überquere Straße barfuß, die Schuhe in meiner Hand, Marianos Stimme in meinem Ohr. Als ich ihm nach dem Essen mein Schreibfeder-Tattoo am Arm zeigte, sagte er verschwörerisch: „Ach, du bist eine von uns!“ Er ist Mexikaner, Kellner und Autor und er hat mich erkannt; es ist, als gehöre ich schon ewig einem Geheimbund an und hätte es eben erst entdeckt. Hier in Tulum in Mexiko.

Schräg gegenüber vom „El Tabano“ liegt das Resort Hemingway und unmittelbar an der Asphaltkante fängt der Sand an. Ich schlängle mich an den strohgedeckten Hütten vorbei, deren Luxus in der Schlichtheit liegt – und in der Nähe zum karibischen Meer. Dezent positionierte Fackeln bekleckern die erahnbaren Pfade mit orangefarbenemLicht. Nach nicht mal dreißig Metern gelange ich an den leeren Strand. Es ist sicherer, die zehn Minuten in der Dunkelheit hier auf der Rückseite der vielen kleinen Resorts zurück zu meiner Cabaña zulaufen, weil die einzige Straße – ein kilometerlanger hingerotzter Streifen Teer – nicht beleuchtet ist und zudem keinen Fußweg hat. Ich spüre den lauwarmen Sand zwischen meinen Zehen. Er ist so fein, dass er fast flüssig ist, wie Milchpulver.

Flashback in die Zeit der Krankheit

Plötzlich höre ich in meinem Kopf wieder Schwester Sabine.

„Und das? Spüren Sie das?“
Ich schüttle den Kopf. Sie steht am Fußende meines Krankenbettes im Universitätsklinikum Eppendorf und streicht mit dem Daumen unaufhörlich über meinen großen Zeh, das sehe ich.

Aber an meinen jodroten Füßen spüre ich fast nichts. Als hätte ich meterdicke Hornhaut unter der Fußsohle und fette Wattebäusche auf den Zehen. Abgestorbene Nerven, unterversorgtes Gewebe. Ich liege mit auf beiden Seiten offenen Unterschenkeln und bis nach oben hin in Halbschalengips einbetonierten Beinen rücklings auf einer Antidekubitusmatratze und darf mich quasi nicht bewegen.

Kompartmentsyndrom, persönliches Pech. Eine unangenehme Komplikation während meiner ersten Operation, ein Lagerungsschaden. Was bei Obst zu Druckstellen führt, führte bei mir dazu, dass mir fast die Beine hätten amputiert werden müssen. „Das ist wirklich ausgesprochen selten.“ Ja, Dr. Meyer – in ausgesprochen selten bin ich leider ausgesprochen gut. Schwester Sabines Daumen stoppt.


„Kommt das Gefühl denn irgendwann wieder?“ Sie nickt eifrig mit geschlossenen Augen. „Bestimmt. Ganz bestimmt.“
Und ich merke: Sie hat keine Ahnung. In mir wallen Verzweiflung und Trotz auf. Ich will das alles nicht! Ich hab‘ mir doch erst neue High Heels gekauft. Rote Paillettenpeeptoes.

Als am Abend des 15. Februar 2011 die Nummer meiner Ärztin auf meinem iPhone-Display erschien, hatte ich das Paket gerade geöffnet und hielt einen davon in der Hand. „Es ist bösartig.“ Ich sah den Schuh fallen, den Rumms hörte ich Äonen später. Und nun liege ich hier „auf Herzhöhe“ und weiß nicht, ob ich die Glitzerpumps je an meinen Füßen fühlen werde, ob ich überhaupt reinpasse.

Meine Beine haben die Unfallchirurgen gerettet, die vier großen Narben sind zweitrangig. Die angekündigte Chemotherapie werde ich schon irgendwie überstehen. Aber werde ich wieder ganz normal laufen können? Werde ich wieder stundenlang tanzen? Werde ich Gras und Schnee und Steine und Sand unter meinen Füßen fühlen?

Ich spüre wieder was am Strand von Tulum in Mexiko

Keine zwei Jahre später stapfe ich in Tulum in Mexiko ohne Schuhe am Strand entlang und spüre jedes einzelne feingemahlene Sandkorn. Überall: Vom großen bis zum kleinen Knubbelzeh, am Ballen und an der Hacke und dazwischen auch.

Über mir breitet sich das Sternennetz aus, neben mir ragen Palmen in den jungen Nachthimmel, vor mir zischt die Brandung. Ich bin ganz allein. Und ich fühle mich angesichts so viel zeitloser Erhabenheit nicht klein, sondern groß und immer größer, mein Herz weitet sich, ich löse mich auf.

Meine Schritte verlangsamen sich unwillkürlich bis ich schließlich auf die Knie sinke. Tränen rollen rechts und links an meinen Wangen runter, an meinem Hals entlang und verschwinden nasskalt in meinem Dekolletee. „Danke. Dankedankedanke“, flüstere ich und kann nicht aufhören lächelnd zu weinen.

Der Wind lässt den Sand hier in Tulum in Mexiko leise knistern. Es klingt wie „Gern geschehen“.

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