„No hay regalos en Cuba.“ In Kuba gibt es keine Geschenke. Der Taxifahrer zuckt mit den Schultern, ein Klümpchen Asche fällt von seiner illegalen Cohiba auf den aufgeplatzten Ledersitz des 1955er Buick Roadmaster. Für die Fahrt von der Altstadt Havannas ins Hotel Nacional hatten wir sechs CUC (Cuban Convertible Peso) vereinbart. Jetzt will er acht – weil er einen Umweg gefahren ist. 

„Hombre, d’eso NADA.“ Ich mache ihm in meinem simplen Spanisch nachdrücklich klar, dass es nicht mein Problem sei, wenn er seine Stadt nicht kenne. Nach einigem Hin- und her in drücke ich ihm stur sechs passend in die Hand und steige aus. Hart verhandeln, hart bleiben – ich habe es hier gelernt. Er gibt Gas und lässt mich in einer Rußwolke stehen. Aber nicht, ohne mir noch durchs offene Fenster anerkennend hinterher zu schnalzen.

Kuba. Ein Land, an das ich mich gewöhnen musste. Ein Land, das mich beschenkt und gefordert hat. Ein Land, das eine kleine Delle in meiner Seele hinterließ.

Armut ist nicht charmant

Ich kam her, weil ich Musik, den morbiden Charme verfallener Häuser und alter Autos erleben wollte so lange er noch währt. Die rumgetränkte Romantik Havannas. Aber die Kubaner sind arm und echte Armut ist weder charmant noch romantisch. Sondern bitter. Und das nicht nur für die Menschen, die hier leben.

Der Tourist ist eine durchs Land kullernde Mega-Münze, von der sich jeder ein möglichst großes Stück abschneiden will. Dass er auch Mensch ist, ist mas o menos sein Problem. Die Kubaner haben nämlich ganz andere Sorgen.

Ich fingere meine Digitalkamera aus der Tasche und fotografiere das Hotelpanorama. Etwas abseits der Auffahrt machen drei alte Kubaner Musik. Sie spielen in exakt der Sekunde auf, in der ich aus dem Taxi klettere. „Chan Chan“, natürlich. Einer der alten Herren hat aus einem Besenstiel, einem Farbeimer und einem Stück Wäscheleine einen Bass improvisiert.

Kurzer Blick ins Portemonnaie: Ich habe noch 25 Cent Kleingeld. Lächelnd reiche ich dem Bassisten, er hätte beim Buena-Vista-Social-Club dabei sein können, das Geldstück. Sein Grinsen schrumpft und er insistiert: „No, no. One. ONE. Foto, Foto!“ Ich versuche, meine aufwallende Wut von Akzeptanz wegspülen zu lassen; meine Naivität liegt längst ersoffen auf dem Grund. So läuft das hier nun mal. „Was soll man machen? Das ist Kuba.“ Diesen Satz höre ich in meinen zweieinhalb Wochen nahezu täglich. „No tengo un CUC. Lo siento“, murmele ich und schiebe mich an ihm vorbei. Die Musik bricht ab.

In Kuba gibt es zwei Ökonomien

25 Cent. Das klingt wenig. Ist es aber nicht – wenn es sich um CUC handelt. Eine kubanische Krankenschwester verdient umgerechnet etwa 17 CUC im Monat. In der Landeswährung, der moneda nacional. Mit dem Peso kann sie viele Dinge deutlich günstiger kaufen als ein Tourist, denn Kuba hat zwei Ökonomien. Wie bizarr die Situation ist, zeigt das Beispiel eines Lehrers. Er erzählt mir, er habe seinen Job geschmissen, um auf dem Markt Obst zu verkaufen. Weil er damit ungefähr das Vierfache seines vorherigen Gehalts verdient.

Und so ist es kein Wunder, dass viele Kubaner dem Dollar-Ersatz ein Stück Würde opfern.

Wie die alte Mulata in Santiago de Cuba, deutlich über 60, kurze graue Locken, ihre schlaffen Brüste BH-los unter einem Leopardenshirt, krümelige Schminke auf den runzligen Lidern, roter Lippenstift auf dem eingefallenen, zahnlosen Mund. Sie hält am Parque Cespedes, dem Platz zwischen Luxushotel, Kathedrale und dem Haus von Diego Velázquez, nach Freiern Ausschau. Von 11 Uhr vormittags bis spät in die Nacht. Die Klischeekurzzeitpärchen aus ältlichen, kahlen Touristen und jungen, knackigen Kubanerinnen flanieren an ihr vorbei. Und trotzdem kommt sie wieder. Jeden Tag. Ich kenne sie irgendwann, sie grüßt mich zahnlos lächelnd.

Oder das Mädchen mit den zwei Zöpfen im lila „Lovemaster“-Shirt, dessen Mutter uns vor der Kathedrale nach der üblichen Dreifaltigkeit aus Seife/ Kuli/ Kaugummi fragt, als wir sagen, dass wir kein Geld haben. „Es ist ihr fünfter Geburtstag. Por favor.“ Die Kleine hängt an Mamas Hand und starrt an uns vorbei ins Leere. So sieht kein Kind an seinem Geburtstag aus. Und was macht es hier um 23 Uhr auf diesem halbseidenen Platz in Santiago? Ich wende mich feige ab – weil ich nicht erahnen müssen will, welches Geheimnis das Licht in ihren Kinderaugen gelöscht haben könnte.

Mit den Kindern ist es am Härtesten

Am Aussichtspunkt „Balcón de Velázquez“ in Santiago spielen zwei Mädchen und ein Junge zwischen gesprungenen Fliesen mit alten „TuKola“-Dosen. Bis wir kommen. Sie rennen auf uns zu. „Amiga! Amiga!“ Die Kleider der Mädchen sind zu klein und stehen vor Dreck, die Haare sind filzig und alle drei haben keine Schuhe. Sie wollen Kaugummi, Eis, Bonbons und weichen uns nicht von der Seite.

Ihr Anbiedern macht mich wütend und ich halte eine Kurzpredigt auf Spanisch. Irgendwas mit Freunde hat man im Herzen; man ist nicht mit jemandem befreundet, nur weil er einem Eis kauft, warum zeigt ihr mir nicht, was ihr spielt? Alle drei hören mir zu, doch ich breche ab. Mir versagt die Sprache und damit meine ich nicht mein Spanisch. Bitterkeit schnürt meine Kehle zu. Wie selbstgerecht und überheblich bin ich bloß, dass ich vor diesen Kindern ihre gelernte Art zu leben und zu überleben abwerten will? Ich rede von moralischen Werten in dem komfortablen Wissen, heute Abend Essen zu bekommen ohne darüber nachzudenken. Ich kann mir Eis kaufen, wann ich will. Ich habe früher meine Eltern nach Süßkram gefragt, sie fragen eben Touristen.

Aufflammender Selbstekel wird von Hilflosigkeit gelöscht und dann von Traurigkeit weggeschwemmt. Wenig später strömt ein Touristengrüppchen in der üblichen Uniform Trekkingsandale/ gestreiftes Poloshirt/ Khakishorts ein. Sie posieren mit den Kindern für Erinnerungsfotos. Ich höre sie schon, wieder daheim in der Pinneberger Doppelhaushälfte. „War das nicht malerisch? Damals, 2012 in Kuba auf dem Aussichtspunkt?“ Und er: „Ja, und diese Kinder! So arm, aber trotzdem so fröhlich. Schön war das.“ Sie schrauben selbstzufrieden die Kappen auf ihre Objektive. Und dann kaufen sie den Kindern Eis.

Immer die gleiche Masche – weil’s nicht anders geht

Es ist so schwer abzuwägen. Was ist richtig, was ist falsch? Einen Tag nach meiner Ankunft in Havanna. Noch beseelt von der Musik in den Straßen, dem Geruch nach Meer, Benzin und Zigarren und den vielen Fotomotiven. „Whereyoufrom?“ So sprechen sie dich an und so machte das auch der Mann Ende Vierzig mit mir. „Germany“, sagte ich. Und dann redete er zu meinem Entzücken Deutsch mit mir. Kuba und die DDR – klar, da war ja was vor der Wende. Er war einige Zeit in Leipzig, irgendwas mit Maschinenbau. Und dann wollte er Kaffee mit mir trinken gehen.

Erst zögerte ich, aber dann ging ich mit. Im vollen Bewusstsein, dass ich die Rechnung würde übernehmen müssen. Und weil der Kaffee aus war („Was soll man machen? Das ist Kuba.“ Lächeln. Schulterzucken.), tranken wir unter dem rotierenden Ventilator Mojitos an der Bar. Mittags um 12. Wir plauderten in einem Mix aus Spanisch, Deutsch und Englisch. Kurz vor dem Ende seiner halbstündigen Pause fing er an, mir von seiner Tochter zu erzählen. Noch ganz klein sei sie und sehr krank. Ob ich nicht Windeln kaufen gehen könnte? Oder ihm noch besser gleich Geld geben? Der exakte Wortlaut aus der „Achtung, Abzocke“-Sektion im Reiseführer. Die Enttäuschung arbeitete sich von meinem Gehirn zu meinem Herzen vor und dehnte sich dann eiskalt bis in meine Eingeweide aus.

Was ich gesagt habe? Nein. Und ich kam mir furchtbar mies dabei vor. Aber es fühlte sich richtiger an als andersrum.

Adiós, Kuba…

Jetzt geht es also weiter nach Rio. Zu zweit sitzen wir im Taxi auf dem Weg zum Flughafen, diesmal auf der federnden Rückbank eines alten Ford. Während aus den nachträglich eingebauten Boxen Salsa und Rumba von Beny Moré hallt, erzählt der Taxifahrer uns von seiner Band und seiner Liebe zur Musik.

Die Stadtteile Havannas mit ihren putzblättrigen Häuserruinen und den Wäscheleinen fliegen an mir vorbei und ich erinnere ich an die Gastfreundschaft der Kubaner, die mich – gegen Bezahlung – in ihren blitzsauberen Häusern, den Casas Particulares, schlafen und an ihrem Leben teilhaben ließen. Die mich immer wie ein Familienmitglied verabschiedet haben. An die vielen Kubaner, die ein „No, gracias“ mit einem Augenzwinkern wegstecken konnten und mich nicht am Handgelenk festgehalten haben. Die mit mir getanzt, gelacht und ihren Rum geteilt haben. An die alleinerziehende Glixneis, die im Bus von Cienfuegos nach Trinidad neben mir saß, der ich von meinen Erlebnissen erzählte und die sich ein bisschen für ihre Landsleute schämte.

„Das macht Besucher doch traurig und das passt nicht zu Kuba. Mit diesem Gefühl sollen die Menschen nicht nach Hause fahren. Kubaner sind von Natur aus sehr gastfreundlich. Es ist diese doppelte Wirtschaft, weißt du?“ Dann bringt sie mich vom Busbahnhof zu meiner Unterkunft. Den ganzen Weg, bis an die Tür. Beim Abschied umarmt sie mich und sagt schmunzelnd: „Geschenkt.“

Daran denke ich, als ich am Flughafen José Martí aussteige, und lasse meine Kopfhörer für den musikverliebten Taxifahrer auf der Rückbank liegen.

Es gibt nämlich sehr wohl Geschenke auf Kuba.

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