Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Mann so fest umklammert habe. Meine Arme sind fast taub. Ich kauere auf dem Rücksitz eines klapprigen Mofa, „Mototaxi“ heißt das hier. Die bringen einen in den Favelas in Rio für 2 Reals den Berg hoch. Der Helm auf meinem Kopf lässt sich nicht schließen, zu groß ist er auch, und rutscht bei jeder größeren Unebenheit weiter Richtung Nacken. 

Wir rasen auf regennassem Kopfsteinpflaster die steilen Wege hoch, an Mülltütenhügeln vorbei, in den engen Kurven berühren meine Knie fast den Boden. Zwischen sich und den Lenker hat der Fahrer meinen 18 Kilo schweren, obszön prallen Rucksack geklemmt. Der Motor quäkt angestrengt.

Noch eine Erhebung, ich fliege millisekundenlang vom Sitz und lande zum Glück wieder an derselben Stelle. Mein Helm klackt gegen seinen. Ein paar Mal rutschen wir fast aus. Jede Wette, dass Oma genau dieses Bild vor Augen hatte, als sie sagte: „Mach‘ bloß nichts Gefährliches, Kind! Hörst du?“ Ich muss leise lachen. Versucht hab‘ ich’s ja, Omi. Aber der Taxifahrer wollte nicht hochfahren, hier in die Favela. „Vidigal? Nein. Auf keinen Fall. Ich bringe dich zum Eingang. Aber das war’s.“ Close enough.

Mein Weg in die Favelas in Rio

Nach drei Wochen caipisonnengetränktem Hochglanz-Rio in Leblon und Ipanema ziehe ich jetzt in eine der Favelas in Rio de Janeiro. Und zwar direkt nebenan. Hier sind die Armenviertel nämlich nicht tourismusfreundlich und goodlifekonform an den Stadtrand outgesourct. Sie sind mittendrin. An den Hängen der Berge, die überall in Rio steil aufragen. Sichtbar. Riechbar. Unverdrängbar.

Wie es wohl ist, dort auf der andere Seite habe ich mich jedes Mal gefragt, wenn ich meine sambawunden Füße am Strand Ipanemas in die Brandung getunkt und nach rechts auf die Schachtelhäuschen an den Hängen der „Dois Irmãos“ geschaut habe. Brutal? Dreckig? Doch ganz nett? Und was sehen sie, wenn sie hierher schauen?

Unser Mototaxi flitzt an einem der vielen kleinen Cafés vorbei; zwei Polizisten essen Pizza, die schusssicheren Westen über die Plastikstuhllehnen geworfen, zwei ca. 1,50 m lange Maschinengewehre in die Ecke gestellt. Mittags halb zwei in Rio. Seit Vidigal im November 2011 in einer gewaltsamen Aktion von Drogendealern befreit und befriedet wurde, ist es ruhig hier. Wie in vielen Favelas, besonders in der Nähe der „Zona Sul“ – dem Ort, wo wohlhabende Cariocas und Touristen die bevorstehende Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 ohne Nebenwirkungen wie Gestank und Gefahr genießen wollen. Deshalb bemüht sich die Stadtverwaltung vermehrt um Integration der illegalen Siedlungen, in denen immerhin fast ein Drittel der Bewohner Rios lebt – mit Wasser- und Stromversorgung, Müllabfuhr, Kabelfernsehen und Polizeistationen.

Und ich will mitmachen, irgendwas tun, der Zona-Sul-Glamour hat sich zwischen Strand und Samba zerrieben. Als ich meinem brasilianischen Bekannten Lucas von meinen Plänen erzähle, ist er begeistert. Und zugleich unangenehm berührt: „Es ist eine Schande. Nur Ausländer wie du gehen und helfen den Menschen in den Favelas in Rio. Wir Cariocas nicht, obwohl wir so dicht dran sind. Ichweiß auch nicht, warum das so ist.“ Aber mal ehrlich: Wer von uns geht schon nach Wilhelmsburg oder Marzahn und tut dort irgendetwas Sinnvolles?

Mein erster Schritt in Richtung der Favelas in Rio war Google, und jetzt bin ich offiziell Volunteer bei „Project Favela“ – einer One-Man-Organisation, die mit kleinen Projekten direkt in den Armenvierteln zusammenarbeitet. Hauptsitz in Rio und nicht in London, New York oder Kansas City. Ich werde dreimal in der Woche mit Kindern in der nahe gelegenen Favela Rocinha tanzen und ihnen dabei ein wenig Englisch beibringen.

„Weißt du, es ist eine Herausforderung, aber es ist auch eine Belohnung. Wenn dir ein kleine Veränderung gelingt, indem du ihnen Selbstvertrauen gibst, sie dazu inspirierst, mehr aus ihrem Leben machen zu wollen, als Drogen zu verkaufen oder mit fünfzehn schwanger zu werden, dann ist dir eigentlich nicht nur eine kleine, sondern eine große Veränderung gelungen.“ Scott, das Herz und Hirn von Project Favela, blickte mich über den Bierkühler hinweg an. Seine Worte schlugen in meiner Seele Wurzeln. Ich war sofort dabei.

Wo bin ich bloß gelandet?

Der Mototaxi-Fahrer hält an, wir sind da. Er hievt meinen Rucksack vor die schmale Tür einer schäbigen grünen Mauer. Hier soll sich ein brandneues Hostel befinden. Aus einem der vielen Fenster starrt mich eine alte Dame an, aus einem anderen Fenster dröhnt der treibende Beat Favela-Funk. Sieht nicht aus als gäbe es hier ein Hostel. Ratlos stehe ich im Regen und blicke dem davonwetzenden Mototaxi-Fahrer wehmütig hinterher. Ich konnte mich so gut an ihm festhalten.

Bis plötzlich Bruno den Berg hochkommt und mich mit Namen begrüßt. Scott hatte ihm gesagt, dass ich komme. Bruno ist Hostelbesitzer, Familienvater, Favelado. Jünger als ich. Er spricht ein Bisschen Englisch, ich ein Bisschen Portugiesisch, wir beide gestikulieren gern und so kommunizieren wir miteinander. Er schließt die Tür auf und schleppt meinen fetten Rucksack mühelos über seinem Kopf durch einen mit Bauschutt zugemüllten Hinterhof, eine Treppe ohne Geländer hinab, eine andere hinauf. Und dann stehen wir in einem eleganten, wohnzimmerartigen Aufenthaltsraum. Pastellfarbene Wände, weiße Bodenfliesen, Sitzecke in Bordeaux, Flatscreen-Fernseher und eine halboffene Luxuseinbauküche.

[Lest auch: Meine Ankunft in Rio de Janeiro]

Hinter einem kleinen mahagonifarbenem Schreibtisch, der Rezeption, sitzt ein 15-jähriges Mädchen mit Dutt am Computer, sie begrüßt mich in fließendem Englisch. Während sie und Bruno mich ins Hostelzimmer bringen (eine weitere Treppe hoch; in den Favelas in Rio kann man nur nach oben bauen), frage ich sie, mit welchem Programm sie so gut Englisch gelernt hat. Ihre Antwort löst bei mir einen kleinen Hustenanfall aus: „Justin Bieber. Ich bin ein riesengroßer Fan und so habe ich die Sprache gelernt.“ Dass sie und ihr staubtrockener Humor einen Witz gemacht haben, verstehe ich erst, als ich sie besser kenne.

Mein Zuhause für die nächsten Wochen

Dann stehe ich in einem 6-qm-Zimmer, in das Bruno und seine Frau Fernanda drei Hochbetten für je drei Personen gezwängt haben. Eines ihrer zwei Hostelzimmer. U-Boot-Matrosen finden, dass dieser Raum etwas eng ist, denke ich. Aber für einen Monat wird es gehen. Ich werfe meine Handtasche auf das oberste Bett.

Nachdem ich meine Matratze schließlich von der Leiter aus bezogen habe, gehe ich auf Erkundungstour. Eine Treppe, ohne Geländer natürlich, führt auf eine Dachterrasse. Und die Aussicht macht mich atemlos. Rechts sehe ich die bunten, aufgestapelten Häuschen Vidigals den Hang hochkriechen; vor mir umarmen sich Meer und Horizont. Von unten klettern leise die Klänge von Orixá-Trommeln den Berg hinauf. Und links sehe ich Ipanema. Hochhäuser, ein sanft gebogener Strand, viele Sonnenschirme und weißer Wellenschaum.

Ganz hübsch, aber durchaus ein bisschen flach sieht es also aus – hier, von der anderen Seite.

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