Ungewohnt schlaff sieht er aus, wie er da vor mir liegt – eingefallen, schrumpelig und nutzlos. So kenne ich ihn gar nicht. In sechs Monaten Reise um die Welt habe ich meinen Rucksack rund 40 Mal vollgestopft, ein- und umgepackt, leer war er nie. Und nun weide ich mein Reiseuniversum komplett aus, um es auf dem Dachboden seinem Schicksal zu überlassen. Seit knapp einer Woche bin ich wieder in Hamburg. Angekommen bin ich nicht. 

Der Himmel ist schmutzigweiß und sprüht kriechkalten Niesel ans Fenster. Frühling hier ist wie Herbst in Cape Town, denke ich – und versuche, das in meinen Seelentakt eingegroovte Aufbruchgefühl abzuschütteln. „Hier bleiben“, das kenne ich nicht mehr.

Lediglich die Kapähnlichkeit des Wetters und dieselbe Zeitzone mildern den Übergang ein wenig. Alles andere fühlt sich zu eng, zu kalt, zu grau an. Wie diese Frau auf dem letzten Flug von München nach Hamburg, die sich neben mich setzt und auf mein „Hallo!“ mit „Stimmt was nicht?“ antwortet.

Willkommen Zuhause. Ist es noch Zuhause?

Vieles ist gleich. Vieles ist anders. Ich finde den Weg zum Hafen nicht sofort, in der Buslinie 3 gibt es WLan, mein Lieblingskaffee ist teurer geworden, Arzt-Überweisungen wurden abgeschafft, jemand erkennt endlich und sieht trotzdem nicht und Briefmarken kosten jetzt 58 statt 55 Cent.

Was soll ich hier?

Auspacken fühlt sich unrichtig an. Ich ziehe den roten Plastikbeutel mit der Aufschrift „Tools“ aus der Rucksackmitte zwischen den Socken hervor. Mit einem dumpfen Knall plumpst mein Schweizer Taschenmesser aufs Laminat und erinnert mich an seine Erstbenutzung: In meiner Cabaña am Strand im mexikanischen Tulum, als ich damit verletzungsfrei die erste von zahlreichen Weinflaschen entkorkte und mich ein bisschen wie MacGyver fühlte.

Vor meinem zusammengesunkenen Rucksack hockend, den Regensound im Rücken, lasse ich alles Revue passieren.

Das habe ich alles auf meiner Reise um die Welt gelernt und zum ersten Mal getan:

Ich habe puren Rum getrunken, zuerst im „Hotel Nacional“ in Havanna: Ron con hielo, Añejo 3 Años, blanco. Später mit Lady Salsa im „Museo del Ron“. Und ich mochte es. Außerdem reinen Scotch, Stolichnaya Elit und Cachaça. Letzteren in Salvador mit meinem Kolumbianer. Die Erinnerung wischt warm über mein fröstelndes Herz.

Ich habe in Las Terrazas mit Fröschen in einer Holzhütte geschlafen – ohne sie zu küssen, denn wer glaubt denn schon an Prinzen – und zum einzigen Mal mein Moskitonetz aufgespannt.

Ich habe gelernt, Spinnen in meinem Schlafzimmer zu tolerieren. Mit Ausnahme der gigantischen Rain Spider im südafrikanischen Wilderness, aber die hätte ob ihrer Größe auch schon fast ein Halsband verdient.

Ich habe meinen Respekt vor Wellen verloren, bin sie in Mexiko unter den Augen der Kormorane runtergerutscht, in Ipanema cool wie die Cariocas durch sie hindurchgeglitten und schließlich in Chintsa mit einem Surfboard bäuchlings auf ihnen geritten.

Ich habe diverse Hochbetten von der Leiter aus bezogen und eine Expertise darin entwickelt, sie nahezu geräusch- und gefahrlos rauf- und runter zu klettern. Im Dunkeln, im Halbschlaf und im Vollsuff. Mit und ohne Leiter.

Ich habe gelernt, bei Licht, Lärm und Gestank zu schlafen. Auch auf Küchenfußböden.

Ich kann jetzt Reiseschecks einlösen (in Brasilien!), mir per Western Union Geld schicken lassen und online Strafanzeige erstatten.

Ich habe gelernt, mir selbst den Rücken einzucremen und mir einen Dutt ohne Haargummi zu machen.

Ich kann Schlösser durchfeilen, Handwäsche maximal auswringen und mithilfe einer Pinzette kleine Schrauben festziehen.

Ich kann in Flipflops von Leblon zur Copacabana laufen und wieder zurück. Und darin im Sturzbachregen die Favela-Berge runterschwimmen.

Ich kann feilschen und verhandeln. In mehreren Sprachen. Und in allen auch ein bisschen leichter „Nein“ sagen als früher.

Ich habe ansatzweise zu Samba und Favela-Funk tanzen gelernt und wie ich Konversationen und Verkaufsgespräche auf Portugiesisch vortäusche.

Ich kann in fremden Megastädten wie New York und Sao Paulo erfolgreich, fehlerfrei und zielführend Metro fahren.

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Ich kann auf Spanisch Zahnarzttermine vereinbaren und mir Kaffee erschummeln.

Ich kann Pfefferkörner ohne Mühle mahlen – mit Holzbrett und Keramikbecher.

Ich weiß, dass Snickers in den USA anders schmeckt als hier und in Südafrika und dass Giraffen schwarze Zungen haben, damit sie dort beim Fressen keinen Sonnenbrand bekommen.

Ich habe keine Angst mehr, allein zu sein.

Und ich habe strukturiert, schnell und millimetergenau packen gelernt.

Erfahrungen passen in keinen Rucksack

Die Klappe meines fast leeren Rucksacks klafft vorwurfsvoll. Meine Finger gleiten in Dankbarkeit über die glatten Reißverschlusszähne. Er ist jedes Mal wieder zu  mir zurückgekommen. Auch nach den über 22 Stunden der letzten Reise, auf der ich um Mitternacht über Lake Malawi „Happy Birthday to me“ flüsterte. Vielleicht deshalb, weil ich ihn immer zum Abschied geküsst habe. So wie jetzt.

Zeit, Müll von Erinnerungen zu trennen. Der Stadtplan von Buenos Aires mit meinen Kugelschreiberkreuzchen, die Eintrittskarte fürs Sambódromo, die kaputte Uralt-Kamera, die Kühlschrankpins für nie besuchte Couchsurfer, die als Souvenir gedachten eselsohrigen Enredo-Texte von Mangueira und Salgueiro – ich brauche sie nicht mehr.

Dann ist mein Rucksack tatsächlich leer. Nach all der Zeit. Nach einer ganzen Weltreise. Ich wische mit einer Hand routinemäßig durch die hinteren Ecken.

Und finde plötzlich noch einen geweckten Eindruck, eine Hoffnung, eine Sehnsucht und eine Erwartung. Jemand muss sie während der Reise in mein Gepäck geschmuggelt haben, als ich nicht genug aufgepasst habe. Aber die Heimreise hat ihnen nicht gut getan: Welk, zerquetscht und zerbrochen sehen sie aus im trüben Licht Hamburgs. Ich betrachte sie zum letzten Mal. Ich habe sie viel zu lange mit mir rumgeschleppt. Klamm fühlen sie sich an, aber das ist bestimmt nur von der hohen Luftfeuchtigkeit. Ich lasse sie auf die zerknüllten Liedtexte fallen und schließe den Rucksack mit einer konsequenten Bewegung.

Auch mein Herz hat was gelernt auf dieser Reise um die Welt.

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