Chancengleichheit und Gerechtigkeit – nicht in Deutschland, das ergibt die aktuelle World Vision Kinderstudie. Eine stern.de-Autorin besucht ihre alte Grundschule in Hamburg-Billstedt.

VON JESSICA WAGENER

[Dieser Text erschien zuerst auf stern.de]

Am Fenster hängen noch dieselben gelben Vorhänge wie vor 30 Jahren. Ich stehe etwas ungläubig in genau dem Klassenzimmer, in dem 1983 meine Schulzeit begann. In der Grundschule Mümmelmannsberg, in einem von Hamburgs Problemstadtteilen. Warum ich heute die erste Klasse besuche, soll ich den Kindern erklären. „Um euch zu fragen, was ihr ungerecht findet“, sage ich. Ein Mädchen mit Zahnlückenlächeln fragt: „Was heißt ungerecht?“

Diese Frage haben auch die Macher der World Vision Kinderstudie 2013 knapp 2600 Kindern von sechs bis elf Jahren gestellt, erstmals hat die Untersuchung den Schwerpunkt Gerechtigkeit. In der Studie heißt es: „Bei den Kindern zieht sich nach wie vor der Effekt der Herkunftsschicht wie ein roter Faden durch deren Lebenssituationen und die damit verbundenen Chancen. Vor allem der Teil der Kinder, der der untersten Herkunftsschicht entstammt, ist weitgehend abgehängt.“ So wie hier in Mümmelmannsberg?

Eltern an Bord

Bei meiner Einschulung hatte ich Block und Bleistift dabei, heute Smartphone und Tablet. Die Kinder der Klasse 1b, die während der „Einlaufzeit“ von 8 bis 8.15 Uhr eintrudeln, scharen sich um mich und mein iPad. Ob ich auch Spiele hätte, wollen sie wissen. „Für mich ist das kein Spiel-, sondern ein Werkzeug. Wie ein Hammer für einen Tischler“, versuche ich zu erklären.

Noch vor Unterrichtsbeginn übt ein Vater mit seinem Sohn am Tisch lesen, es gibt Tee und Kaffee. Montags sind in den ersten Stunden immer Eltern dabei – „Family Literacy“ heißt das Projekt. Das Konzept stammt aus den USA, um Zugang zu schulfernen Eltern zu bekommen. Heute sind zehn Mütter und zwei Väter bei 20 Kindern. Die anderen Eltern arbeiten. Oder haben keine Lust. Klassenlehrerin Susanne Karwath, 33, sagt: „Die Eltern hier sind sehr engagiert, aber natürlich nicht alle. Manche Mütter sprechen auch kein Deutsch, waren selbst nie in der Schule.“

Sie beginnt den Unterricht für die erste Klasse mit einem Sitzkreis und liest eine Geschichte vor. Es geht um Kinderarbeit in Pakistan. Anschließend sprechen die Erstklässler über Kinderrechte. „Alle Kinder sollen gleich viel dürfen“, meint der sechsjährige Karim.

Später nennt mir Vanessa, 8 und aus der 2b, ihre Vorstellung von einer besseren Welt: „Wenn man endlich mal das Verbot gegen Kinderarbeit macht.“ Die Schule engagiert sich im Rahmen des Projektes „Kinderarbeitsfreie Zonen schaffen“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Zusammen mit den Eltern nähen und bemalen die Schüler mehrerer Klassen derzeit T-Shirts in Puppen- und Teddybärengröße, sie sollen beim Tag der offenen Tür verkauft, der Erlös gespendet werden.

Förderberechtigt und angeschlagen

Dabei geht es den kleinen Künstlern selbst nicht gut. „Bei uns sind über 70 Prozent aller Eltern förderberechtigt und zahlreiche weitere Eltern liegen mit ihrem Einkommen knapp über dem Hartz-IV-Satz“, sagt Schulleiter Joachim Ninow, 54. In Mümmelmannsberg haben mehr als 70 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshintergrund. „Die Entmischung nimmt in ganz Hamburg zu. Und hier ballen sich die Probleme“, sagt Ninow. Eines davon: „Viele Kinder kommen mit erheblichem Entwicklungsrückstand hierher. Es sind häufig traumatisierte, schwer angeschlagene Familien, die ihre Problematik an die Kinder weitergeben“, so der Schulleiter.

Aber auch, wenn zu Hause alles ganz normal ist, fehlt es oft an vielem. Extras wie Reiten, Klavier, Tennis und Therapie finden hier nicht statt. „Dass die Kinder in Butter gebacken werden, das haben wir hier nicht. Was aber nicht heißt, dass sie hier nicht gut gedeihen können“, betont Ninow. Und zwar alle. Die Grundschule ist schon seit 20 Jahren inklusiv. Das bedeutet, auch förderberechtigte Kinder sind willkommen. Joachim Ninow: „Es geht hier vom schwer geistig behinderten Kind bis hin zu Kindern, die hochbegabt sind.“ Eine zusätzliche Herausforderung.

„Oh, du kommst aus Mümmelmannsberg?“

Es gebe aber nicht nur Schwierigkeiten, so Lehrerin Karwath: „Ich arbeite hier aus großer Überzeugung und empfinde das multikulturelle Miteinander als sehr dankbar und herzlich.“ Sie ist bewusst an diese Schule gegangen, sie will etwas zurückgeben, sie kommt selbst von hier: „Als ich zur Uni ging, hieß es schon mal ‚Oh, du kommst aus Mümmelmannsberg – hast du ein schweres Leben gehabt?'“ Ich weiß genau, was sie meint.

Die Grundschule Mümmelmannsberg ist inzwischen auch eine Ganztagsschule, hat bald eine Kantine und jetzt schon zwei Pädagogen pro Klasse, es wird in „multiprofessionellen“ Teams gearbeitet. Die Stadt investiert. „Der Ansatz des Senats ist, die Brennpunkte aufzuwerten. Wir haben hier eine hervorragende Ausstattung“, sagt Ninow. „Und wir versuchen, allen Kindern gerecht zu werden.“ Die Schule hat sich verändert seit damals. Und das ist gut. Susanne Karwath erklärt die Entwicklung: „Schule ist demokratischer und projektorientierter geworden als früher. Kinder werden mehr in Entscheidungen einbezogen.“

Davon allerdings zeichnet die World Vision Kinderstudie ein anderes Bild: Zwei Drittel der befragten Kinder finden, auf ihre Meinung würde in Schule und Hort nicht genug Wert gelegt. „Kinder möchten ernst genommen werden“, sagt Kindheitsforscherin Sabine Andresen von der Goethe-Universität Frankfurt, die zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann die Studie leitete. In Mümmelmannsberg werden sie das, es gibt einen wöchentlichen Klassenrat.

Chancenungleichheit trotz Mitbestimmung

Leider heißt mitbestimmen aber noch lange nicht gesellschaftlich dazuzugehören. Wie ist das mit Chancen und Gerechtigkeit im Problemstadtteil denn nun wirklich? „Dass es eine offensichtliche Chancenungleichheit gibt, wissen wir nicht erst seit Pisa. Trotzdem ist es möglich, sich zu mausern. Auch hier“, so Karwath. Ihre Kollegin Birgit Matthiessen, 64, sieht das ähnlich: „Wir kämpfen hier um jedes Kind und versuchen, es zu fördern. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie von hier weggehen, ohne dass wir ihnen etwas mit auf den Weg gegeben haben.“

Als ich erfahre, dass meine strenge Mathelehrerin hier nicht mehr arbeitet, atme ich auf. Meine ehemalige Klassenlehrerin, Frau Reimann, ist auch schon in Pension. Leider, ihr wäre ich gern begegnet. Denn es war nicht zuletzt ihr Engagement, das mir das nötige Selbstvertrauen gab, um meinen Weg zu machen. Und das ist wichtig, weiß auch Joachim Ninow: „Es gab durchaus Fälle, wo wir fast aufgegeben hätten, die sich dann aber noch gefangen haben. Auch mit Unterstützung der Schulen.“

Ja, es hat sich viel verändert in der Gesellschaft, im Bildungssystem und an meiner alten Grundschule. Nicht alles zum Guten. Aber zum Glück ist hier neben den Vorhängen noch etwas anderes erhalten geblieben: Lehrer mit Herz.


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