Da ist plötzlich eine Tür. Ich bin gerade im Wohnzimmer meines Lieblingshostels in Vidigal angekommen und glotze auf den neuen Eingang gegenüber, während zwei Sofaladungen britischer Teenager wiederum mich anstarren. Ist mir egal, ich sehe bloß diese Tür. Jemand hat sie in die Mauer gebohrhammert, die Wunde in der Wand nicht mal dürftig verputzt.

Gastgeberin Fernanda, die inzwischen viel besser Englisch spricht als noch vor einem Jahr, sagt stolz: „Wir bauen um.“ Offensichtlich. Es soll Tage dauern, bis ich mich daran gewöhne. Und die Tür ist nicht das einzige, das sich während meiner Abwesenheit in Rio verändert hat.

Auf dem Weg nach unten hat ein neues Empanadas-Restaurant eröffnet, wo – ich könnte es schwören – vorher nur eine graue Wand war. Die kleinen Stände mit Kitsch und Süßigkeiten an der Straße unten am Fuße der Favela sind verschwunden. Die Bar do Jesus gegenüber der Kirche hat dicht gemacht. Und die Minibusse!

Sie sind neu und glänzend, mit loch- und fleckenlosen Kunstlederbezügen und fahren nicht mehr nach überall, sondern nur noch bis Leblon. Teurer sind sie auch, statt 2,50 kostet eine Fahrt 3 Reais. Die Menschen, die das Fahrgeld einsammeln und die Zwischenräume ihrer Finger als Geldklammern benutzen, tragen alle die gleichen dunkelblauen T-Shirts mit Rio-Logo. Die kleinen Busse sind jetzt legal.

Nicht ganz so legal sind die Umbauarbeiten im Hostel. Über dem obersten wächst ein neues Stockwerk. „Mit Futon und Grill und Bar“, schwärmt Fernanda in den Baulärm; eine Mauer weicht gerade einer neuen Treppe. Favelas sind wie Organismen, denke ich. An einer Stelle sterben Teile ab, andere knospen und gedeihen ohne Statiker und Architekten, als Bauherren firmieren Erfahrung und Gottvertrauen. Es gibt kein Regulativ. „Ich habe nachgefragt: Es existiert kein Entwicklungsplan für Vidigal“, sagt mir Fausi, ein brasilianischer Student, der sich Vidigal als Thema für seine Abschlussarbeit ausgesucht hat.

Und wie jeder Organismus sind auch Favelas von Krankheiten befallen. Sie heißen Armut, Kriminalität, Gewalt.

Vor einem Jahr kletterte ich mehrmals wöchentlich das nach Fäkalien stinkende, veschlungene Labyrinth in der ebenfalls befriedeten Nachbarfavela Rocinha hoch. Sorglos. Sicher. Das würde ich heute nicht mehr tun. Seit Januar kommt es zu immer heftigeren Schießereien zwischen Drogendealern und Polizei. Am vergangenen Wochenende erreichten die Auseinandersetzungen ihren vorläufigen Höhepunkt – gegen 3:30 Uhr rückte sogar die Spezialeinheit BOPE an. Und dann, das weiß hier jeder, ist es ernst. Die Volunteers aus meinem Hostel gehen nicht zu ihren Projekten – zu gefährlich. „Man hat uns gesagt, die Polizei stürmt in die Häuser und wenn sie Drogen finden, schießen sie“, sagt Emmy und ich wünschte, ich würde glauben, dass sie übertreibt. Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame begleitete demonstrativ Polizisten nach Rocinha und sagte, der Staat würde „nicht zurückweichen“.

Ach, Rio – was tust du dir nur an?

Rita aus London, die in einem Tagescenter für Kinder aushilft, erzählt mir: „Die Dreijährigen bauen sich Waffen aus Duplosteinen und spielen ‚erschießen‘. Ist das normal? Ich habe das Gefühl, sie werden ihrer Kindheit beraubt. Schon die Zehnjährigen posieren am Strand wie Männer.“ Und beim Posieren bleibt es nicht. Manchmal schwärmen sie in Gruppen von 50 Kids aus, rauben einen Strandabschnitt aus und verströmen augenblicklich in den Straßen. „Fast eine Kunstform“, murmelt Rita.

Wer nichts hat, nimmt es von anderen. Und hat keine Zeit für Spiele.

Bei Ritas „Urban-Gardening“-Projekt zeigten fünf Jungs Interesse – an den Gringos und dem, was sie da taten, „aber als sie merkten, dass hier nichts für sie rausspringt, gingen sie wieder. Nur der Jüngste blieb. Er hatte Spaß an der Arbeit und mit uns und offensichtlich noch nicht seine Unschuld verloren.“ Das aber ist oft nur eine Frage der Zeit. „Sie erhalten keine gute Schulbildung, es gibt wenig Chancen für sie, irgendwann einen regulären Job zu bekommen. Und das Drogengeschäft liegt direkt vor ihnen. Es ist so leicht, schon früh einzusteigen“, Ritas Augenbrauen ziehen sich zusammen.

Wie der Teenager mit der Maschinenpistole, der ihr anderntags in Rocinha begegnete. „Er ging an uns vorbei, die Waffe baumelte einfach so in seiner Hand. Wir blieben stehen und taten so, als hätten wir was zu besprechen. Er ging weiter. Das ist meine Erfahrung bisher: So lange man sie in Ruhe lässt und sich nicht in ihre Geschäfte einmischt, könnte man ihnen nicht egaler sein.“ Meine Kehle wird eng. Vor einem Jahr hätte er sich das nicht getraut.

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„Die Drogendealer versuchen immer mehr, Rocinha zurückzuerobern. Wenn sie das nicht schaffen, dann kommen sie vielleicht nach Vidigal“, sagt Victoria, die hier lebt und arbeitet. Neulich habe ich einen einzelnen Schuss gehört. Victoria versucht, mich zu beschwichtigen: „Aber das wird schwer, Vidigal ist viel kleiner als Rocinha, die Polizei kann hier schnell überall sein und man kann sich viel schlechter verstecken. Das wissen die Dealer.“

Überall sein kann keiner. Rios Polizei kommt personell an ihre Grenzen. Und nach dem Schock der Vertreibung aus ihren Favelas hatten die Dealer inzwischen genug Zeit, sich zu sortieren und neu zu formieren. Jetzt fangen sie an zu testen, wie stark die Polizei wirklich ist. Haben wir wirklich geglaubt, das Problem wäre durch Vertreibung erledigt? „Was sollen die Dealer denn machen? Sie haben doch keine Ausbildung“, sagt auch Victoria. Und so erlebt das Konzept „Pazifikation“ jetzt, kurz vor der Fußball-WM, seine Nagelprobe. „Das ist doch alles nur Make-Up, unter der Oberfläche hat sich hier nicht viel geändert“, Victoria blickt ernst und auch mir fällt das Lächeln ausnahmsweise schwer.

Unverändert ist aber auch die seelenberührende Schönheit dieser Stadt, ihr Zauber. Das sanfte Schwingen von Glück in der Luft. Meine Liebe zu ihr. Die herzlichen Menschen, die Demokratie am Strand. Weiße und pinkfarbene Orchideen, die einfach so auf den Bäumen am Straßenrand wachsen. Die allgegenwärtige Musik, die direkt ins zentrale Nervensystem dringt, eine Glücksinjektion mitten ins Herz. Busfahrer, die „Speed“ verinnerlicht haben. Mango-Caipifruta, Misto Quente und Huhnbohnenreis. Guaranamorango. Küsse. Karneval. Kokosnüsse am Strand. Auch das alles ist geblieben.

Aber diese verdammte Tür, die ist wirklich neu. Ich wünschte, sie wäre nicht da.

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