Es ist fast Nacht und noch immer höllisch heiß. Ich sitze am Strand von Ipanema auf der Promenadenkante zwischen zwei Faveladas aus dem Complexo Alemão, Vanessa und Juliana. Karneval in Rio. Wir trinken Dosenbier und plaudern auf Portugiesisch über Deutschland und warum sie es super finden. Zumindest glaube ich das.
Meine Sprachkenntnisse reichen nur ein Stückchen über die klassische Bierbestellung hinaus. Um uns herum toben und tänzeln Maskierte durch den Sand. Rund eine Million Menschen gibt sich in diesem Moment hier dem organisierten Exzess hin. Anwälte, Hausfrauen, Studenten, Touristen, Gangster – sie alle schlüpfen in fremde Rollen und verstecken ihr Leben für ein paar Tage in ihren Kostümen.

An uns schlurft eine der vielen Schattengestalten beim Karneval in Rio vorbei. Die alte Frau trägt einen Müllsack voller zerquetschter Bierdosen auf ihrem Buckel. Mit hängendem Kopf und Kennerblick sucht sie den Boden nach weiteren Schätzen ab.

Unvermittelt bleibt sie stehen und schaut mich an. Nur mich. Noch bevor mein Gehirn Zeit hat, ihr Motiv zu umreißen, entblößt sie mit einem Lächeln ihre zwei einzigen Zähne. Sie fängt an, Portugiesisch zu reden, schnell und verwaschen. Ich verstehe kein Wort. Außer „Deus“, das heißt Gott. Sie zeigt auf mich und dann nach oben und dann wieder auf mich. Vanessa und Juliana glotzen die nuschelnde Greisin eine Wellendauer lang an und blicken dann zu mir.

Gott hat einen Plan für mich?

Vanessa neigt sich vor und versucht von schnellem Portugiesisch in langsames Portugiesisch zu übersetzen, während die gebückte Frau unaufhörlich weiter redet. Ich verstehe leider auch von dem, was Vanessa sagt, nur ein Viertel. Lediglich „Gott hat einen Plan für dich“, „glückliche Energie“ und „du bist anders“ kann ich mit meinem löchrigen Sprachverständnis aus dem Wortschwall fischen.

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Was will diese Alte von mir? Ich fokussiere sie und versuche, Spuren von Wahnsinn in ihren Augen zu entdecken. Doch da ist nichts dergleichen. Nur Wärme und eine zerbrechliche Würde, die sich um ihren geschrumpften Körper legt. Und sie redet unablässig weiter von Gott und von mir und von Engeln und Plänen.

Im Zentrum ungewollter Aufmerksamkeit

Inzwischen scharen sich weitere Brasilianer um uns und hören die Worte der Greisin aus ihrem zahnlosen Mund fließen. Sie sehen mich an und lächeln, jemand berührt flüchtig mein Haar. Ich throne im Zentrum einer Aufmerksamkeit, die ich nicht gewollt habe und die ich nicht verstehe. Meine Finger krallen sich in den Saum meines Kleides.

Dann kommt meine brasilianische Freundin Victoria dazu, sie spricht fließend Englisch. Sie sieht mein Stirnrunzeln, hört kurz zu und übersetzt dann: „Sie sagt, du bist jemand sehr besonderes, mit einer starken, liebevollen Energie. So was wie ein Engel. Gott hat dich auserwählt und er hat einen Plan für dich.“ Victoria hält inne. „Ich kann das gar nicht richtig übersetzen, ihre Worte sind poetisch und richtig emotional.“

Dann lächelt auch sie. „Ich hab’s dir ja gesagt, Jess. Du bist speziell.“ Außer mir scheint das hier niemand befremdlich zu finden. Und das beruhigt mich irgendwie. Wenn es Gott gibt und er wirklich einen Plan für mich hat, dann könnte er ihn mir ja mal verraten, denke ich.

Die Dosensammlerin stellt ihren Müllsack beiseite. Mit knochigen Fingern nimmt sie sachte meine Faust. Meine Hand wird weich bei ihrer Berührung. Sie strahlt mich an, zahnlos und mit klarem Blick. Dann tritt sie mit ihren gekrümmten, nackten Füßen einen halben Schritt zurück und verbeugt sich vor mir.

Alle drehen durch beim Karneval in Rio

Ich rutsche auf der Steinkante nach vorn. Was auch immer hier gerade geschieht, es scheint ihr sehr wichtig zu sein. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ebenso warm zurück zu lächeln. „Engel“, sagt sie wieder und deutet in den Himmel und auf mich. Ich umarme sie und bedanke mich. Wofür auch immer.

Sie muss doch ein bisschen verrückt sein, beschließe ich, als sie davon schlurft. Es ist immerhin Karneval in Rio, die Zeit der Narren und Maskierten, da drehen alle durch.

Dann rücke ich meinen Kopfschmuck zurecht. Mir sind bei unserer Umarmung die Teufelshörner verrutscht.

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