Liebe Omi,

du bist jetzt seit genau sechs Wochen tot. Sechs Wochen muss diese Welt nun schon ohne dich auskommen… Und es ist seitdem keine Stunde vergangen, in der ich nicht an dich gedacht hätte. Jedenfalls kann mich so was wie der Tod aber nicht davon abhalten, dir zu schreiben, was alles passiert ist.

Also.

Am Sonntag habe ich mich aufgerafft, meine Trauer geschultert und einen Herbstausflug gemacht. Ich war endlich mal in Potsdam, im Schlosspark von Sanssouci. Das hätte dir gefallen, Omi! Viel besser als damals 1991, als wir das Schloss Charlottenburg besichtigt haben. Überall Natur, alte Bäume in einer wunderschönen, weitläufigen Parkanlage.

Und als ich durchs Herbstlaub stapfte, konnte ich spüren, wie du neben mir gehst. Du warst ganz nah, Omi, und das Bedürfnis, deine Hand zu nehmen, hat meinen Brustkorb von innen zerkratzt.

Ich habe mich an unser Gespräch vor deiner Operation Anfang September erinnert. „Egal, was passiert, Omi: Du wirst immer bei mir sein. Immer. Wenn ich die Welt sehe, wenn ich herumreise, dann wirst du auf meiner Schulter sitzen“, habe ich gesagt und du hast gelächelt und genickt. „Ja, mein Kind. Genau, genau!“

Ich kann dir versichern, Omi: Es ist tatsächlich so. Du bist hier bei mir, du gehst neben mir. Immer. Wenn ich einschlafe, kann ich sogar hören, wie du mir gute Nacht sagst. Das macht mich gleichzeitig glücklich und traurig.


Das mit der Trauer ist manchmal stunden-, ja sogar tagelang beinahe okay. Und dann strömt der Schmerz plötzlich aus einer dunklen Ecke, reißt mich um und spült mich weg. Wie neulich vor dem Supermarkt. Da musste ich so doll weinen, dass die Verkäuferin der Obdachlosenzeitung sich große Sorgen um mich gemacht und mich getröstet hat.

Ach, Omi.

Dem Opi geht es soweit ganz in Ordnung. Er ist jetzt keimfrei – juhu! – das heißt, ich muss keine Handschuhe und keinen Mundschutz mehr tragen, wenn ich ihn besuche. Und ich kann ihm wieder Küsschen geben. Er vermisst dich sehr, Omi. Aber wenigstens meckert er wieder über das Essen und die „Bedienung“ im Pflegeheim.

Na ja, und ich versuche, ihn aufzumuntern, so gut ich kann.
„Ach. Ich bin froh, dass es dich gibt, Opi.“ Und das bin ich wirklich.
„Ich bin auch froh. Du gehörst zu mir“, hat er neulich genuschelt und da ging mir kurz das Herz auf.

Jedenfalls fehlst du uns so sehr, es ist einfach kaum zu ertragen.

Okay, Omi – sonst ist hier aber soweit alles in Ordnung. Ich hoffe, es geht dir gut im Himmel auf Wolke Sieben und dir gefällt, was du von dort aus siehst. Also, dann bis nächste Woche!

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 4: Ohne dich ist alles doof]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 3: Was heißt eigentlich „tot“?]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 2: Opi ist so traurig]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 1: die Beerdigung]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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