Wir werden alle sterben – doch das verdrängen wir gern, lenken uns davon ab. Dabei findet das Leben im Moment statt. Wie wäre es zur Abwechslung also mal damit, todesmutig der eigenen Sterblichkeit ins Auge zu blicken?

VON JESSICA WAGENER

[Dieser Text erschien zuerst auf ze.tt]

In der vergangenen Zeit ist in meinem persönlichen Umfeld fast jedes Jahr ein Mensch, der mir am Herzen liegt, gestorben. Und obwohl die Trauer immer bleischwer, tief und schmerzvoll ist, ist irgendwo weit hinten ein winziges Atom auch kurz erleichtert, selbst noch mal davon gekommen zu sein.

Jeder Augenblick im Leben ist ein Schritt zum Tode hin.
– Pierre Corneille

So sehr ich den Tod – auch aufgrund meiner eigenen Krankheitsgeschichte – fürchte, so sehr bin ich ihm seither auch dankbar. Dafür, dass er meinem Leben Dimension und Schärfe verleiht, meine Perspektive korrigiert und mich stets daran erinnert: Das Leben findet in diesem Augenblick statt. Nicht damals, gestern oder nächste Woche. Jetzt. Und jetzt.

Ich neige dennoch – wie wahrscheinlich viele Menschen – trotz besseren Wissens dazu, Dinge auf später zu schieben. Was aber, wenn es dieses „später“ gar nicht gibt? Meine Großeltern beispielsweise haben ihr Leben lang gearbeitet, fleißig gespart und sich wenig gegönnt. Jetzt sind sie alt, pflegebedürftig und wohnen in einer Einrichtung. Von ihrem Ersparten ist nichts mehr übrig. Dabei hatten sie sich so auf ihre Rentenzeit gefreut. Doch kurz nach Beginn hatte meine Oma einen Herzinfarkt; später wurde bei meinem Opa Parkinson diagnostiziert.

And there is only one thing we say to Death: ‘not today‘.
– George R. R. Martin

Wir glauben, wir hätten ewig Zeit. Dafür, mal ein Huhn in Schokoladensauce zu kochen oder eine*n alte*n Freund*in wiederzusehen, Creme Brûlée zum Frühstück zu essen, ans Meer zu fahren oder jemanden um Entschuldigung zu bitten. Diese Verdrängung ist menschlich und verständlich, denn die permanente Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit versetzt uns in einen Zustand konstanter Alarmiertheit und exzessiven Lebenshungers, der nicht gesund, sondern auszehrend und anstrengend ist. So jedenfalls ging es mir nach der beendeten Bestrahlung und Chemotherapie. Es dauert, bis sich das wieder einpendelt.

Worauf willst du zurückblicken?

Irgendwann kommt tatsächlich der Tag, an dem keine Zeit mehr ist. Die entscheidende Frage lautet: Was willst du sehen, wenn du auf dein Leben zurückblickst? Jetzt kannst du deine Geschichte noch um- und weiterschreiben.

Es muss ja nicht gleich der zehnmonatige Segeltörn, die Himalaya-Besteigung, der Halbmarathon, das Verfassen eines neuen Zeitgeist-Romans oder eine weltverändernde Erfindung sein. Es ist nicht das Spektakuläre, Große, das uns glücklich macht – auch, wenn diese Dinge natürlich erfüllend sein können. Zumindest eine Zeit lang.

Nein. Was uns immer wieder aufs Neue glücklich macht, sind die Kleinigkeiten. Dinge, die vielleicht albern wirken mögen, über die du dir kaum Gedanken machst. Und die trotzdem große Wirkung entfalten:

Konflikte auflösen und vergeben. Jeder Mensch hat sowohl gute als auch schlechte Anteile in sich, die Welt ist nicht schwarzweiß. Bitterkeit macht das Herz schwer und dunkel und die einzige Person, die das spürt und darunter leidet, bist du. Warum also kostbare Lebenszeit mit Groll vergeuden?

Einfacher leben. Was brauchst du wirklich und was auch nicht? Ungelesene Bücher und ungetragene Klamotten zu verkaufen oder zu verschenken, befreit. All die Dinge, die Platz wegnehmen und dir keine Freude bereiten: Du kannst sie loswerden und tief durchatmen.

Sich trennen. Nicht nur von Dingen, auch von Menschen und Gewohnheiten, die dir nicht gut tun, kannst du dich verabschieden. Tschüss, Energievampir-Freundin. Adieu, Netflix.

Menschen treffen. Der*die Spanischlehrer*in, der*die dich damals inspiriert hat. Ein*e gut*e Freund*in, den*die du lange nicht mehr gesehen hast und gern mal wieder umarmen würdest. Aus eigener, trauriger Erfahrung kann ich sagen: keinen Tag zögern, einfach machen.

Ein Haustier halten. Falls du der Typ dafür bist. Die Leute aus meinem Bekanntenkreis, die sich unlängst einen Hund zugelegt haben, haben das bisher keine Minute bereut – sagen sie jedenfalls. Und wenn du schon immer ein Pferd wolltest, dir aber keins leisten kannst, dann fahr halt ein Wochenende auf den Ponyhof.

Um Hilfe bitten. Es ist kein Zeichen von Schwäche, Schwäche zuzugeben – im Gegenteil. Das Leben ist mitunter verdammt hart und ungerecht. Niemand kann oder muss das immer alles allein bewältigen.

Etwas Neues wagen und etwas lernen. Wieso schon wieder ein Teil in Grau? Nimm das in Farbe! Und weshalb nicht einfach eine Woche lang täglich Waffeln frühstücken? Außerdem kannst du eine neue Sprache erlernen, eine Fähigkeit, ein Instrument, ein Gedicht, das Alleinsein, die Überwindung einer emotionalen Hürde – was auch immer die passende Herausforderung für dich ist.

Inne halten und die Augen öffnen. Schau dich in deiner eigenen Stadt um, statt immer nur von der Ferne zu träumen. Oder in deiner direkten Nachbarschaft. An deinem Arbeitsplatz. Da, wo du jetzt gerade bist. Wen oder was siehst du, wenn du genau hinschaust?

Personen sehen wirklich ihr Leben, bevor sie sterben. Den entsprechenden Vorgang bezeichnet man als Leben.
– Gevatter Tod/ Terry Pratchett

Also. Alles, was dich neugierig macht, was dein Herz bewegt, deine Abenteuerlust kitzelt oder dir eine kleine Freude bereitet: Tu es. Es mag pathetisch klingen, aber das Leben ist eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Der Moment ist alles, was wir haben und der einzige Ort, an dem wir wirklich existieren. Wir leben nicht in der Vergangenheit oder Zukunft, wir leben jetzt.

Und irgendwann wird die letzte Seite vollgeschrieben sein. Irgendwann kommt der Tod. Wir müssen alle gehen. Auch du.


Weitere Arbeitsproben von Jessica Wagener gibt’s hier im Portfolio auf Torial.