Es gibt Menschen, die sich erst auf Reisen so richtig angekommen fühlen. Was paradox klingt, ist gar nicht so selten und hat gute Gründe.

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„Also, ich bin ja extra wegen Game of Thrones hier“, sagt Brian. Ich häufe einen Löffel Erdbeermarmelade auf mein Erdnussbuttertoast und gestehe: „Ich habe noch nicht eine einzige Folge gesehen.“ Und alle so: „Waaas?“ Wir lachen. Es ist ein ganz normales, fast familiäres Frühstück.

Mit dem Unterschied, dass ich die fünf anderen Menschen am Tisch erst seit sieben Minuten kenne.

Wir sitzen im Aufenthaltsraum eines Hostels in Belfast, Nordirland. Ich war noch nie in meinem Leben hier und dennoch fühle ich mich zu Hause, geborgen. Mir wird klar, dass es mir auf jeder meiner Reisen so geht. Dass ich mich unterwegs überall woanders heimischer, wohler und angekommener fühle als daheim. Ich wundere mich ernsthaft: Ist alles in Ordnung mit mir?

Ist Fernweh angeboren?

Wieder zurück in Berlin frage ich den Psychologen, Autoren und Reiseexperten Dr. Jürgen Kagelmann („Gesundheitsreisen und Gesundheitstourismus“). Woran liegt es denn, dass manche Menschen ständig Fernweh spüren und losreisen wollen und andere nicht?

„In erster Linie ist es eine vermutlich genetisch angelegte größere Risikobereitschaft, etwa im Sinne der psychologischen Sensation-Seeking-Theorie (PDF). Diese Bereitschaft bezieht sich nicht nur aufs Reisen, sondern auch auf andere Dinge – das Ausprobieren von Drogen, Extremsport“, erklärt Dr. Kagelmann.

Durch neue Reize beziehen Menschen mit entsprechender Persönlichkeitsstruktur einen Teil ihrer Lebenszufriedenheit. Zum einen ist man laut der Theorie des US-Psychologen Marvin Zuckerman stets auf der Suche nach neuen, komplexen und intensiven Empfindungen; zum anderen ist man bereit, dafür gewisse – zum Beispiel finanzielle und soziale – Risiken einzugehen.

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Hm. Meine Drogenexperimente beschränken sich zwar auf geriebene Muskatnuss, damals auf dieser einen Klassenreise. Aber vor zwei Jahren bin ich mal nur an ein klappriges Gestell geschnallt zwecks Drachenfliegen komplett angstfrei in Rio von einem Berg gesprungen und Geld für Reisen treibe ich immer irgendwie auf. Könnte also hinkommen.

So bricht unheilbares Reisefieber aus

Zusätzlich zur angeborenen Risikobereitschaft spiele laut Dr. Kagelmann jedoch auch die Sozialisation eine Rolle, vor allem durch Eltern und Freunde. Ich erinnere mich: Als Kind bin ich mit meiner Familie oft im Auto durch Deutschland gefahren und fühlte mich dabei sehr wohl. Auch in meinem Freundeskreis wird tendenziell gern und gefühlt auch irgendwie immer zu wenig gereist.

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Laut Dr. Kagelmann entfachen aber erst eigene Erfahrungen das Reisefieber so richtig: „Kleinere Versuche, also die allererste etwas längere Reise, sind als so positiv und beglückend empfunden worden, dass man motiviert ist, auf eine neue Reise zu gehen.“ Genau so lief es bei mir. Ich war zuerst eine Woche auf Korfu, dann zehn Tage auf La Gomera und dann ging ich auf eine sechsmonatige Weltreise. Seitdem kann ich einfach nicht aufhören.

Auf Reisen ist es immer schöner

Aber warum beglückt mich ausgerechnet Reisen so sehr – und nicht Mountainbiking? Spielt da etwa sowas wie ein Fluchtreflex eine Rolle?

„Allgemein ist es logisch, dass viele Menschen zu Hause Defizite haben, die sie in der Ferne erfüllt sehen“, meint der Reise-Experte. „Mehr Freundlichkeit, mehr Herzlichkeit, mehr Liebe und Geschätztwerden, weniger Stress, weniger Angst.“ Backpacker seien zudem immer auf der Suche nach einer paradiesischen Struktur anderswo, „in der es keine Konflikte gibt.“

Auch an der Konfliktflucht ist definitiv was dran. Aber manchmal ist es für mich einfach notwendig, eine Zeit lang abzuhauen, auf Reisen zu gehen, durchzuatmen und dadurch wieder Kraft zu tanken.

Zurück ins Gleichgewicht

Und Reisen wirkt! Eine Untersuchung des Psychologie-Professors Martin Lohmann belegt, dass das „zeitweilige Verlassen der Alltagsstrukturen“ zu einer Verbesserung des Wohlbefindens führt. Ha! So ähnlich sieht es auch Dr. Kagelmann: „Im Prinzip ist das Grundmotiv der Reise, eine ins Ungleichgewicht geratene Befindlichkeit durch ein temporäres Weggehen wieder in Ordnung zu bringen.“ Und das hat auf Reisen bisher jedes Mal ganz hervorragend geklappt.

Also bin ich zumindest in dieser Hinsicht nicht vollkommen verrückt?

„Ich wäre vorsichtig mit psychopathologischen Zuschreibungen. Schließlich hängt alles davon ab, wo wir die Grenze ziehen“, meint der Experte. Und er fragt: „Wie viele Reisen im Jahr sollen unnormal sein?“

Eine verdammt gute Frage. Und die Antwort ist ebenso klar wie einfach: „Wenn man nicht darunter leidet, sondern nur die Umwelt etwas daran auszusetzen hat“, sagt Dr. Jürgen Kagelmann, „dann gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern.“


Dieser Text erschien am 30. September 2016 auf ze.tt

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