Ein Jahr nach Opas Tod und gut eineinhalb Jahre nach Omas Tod ist es Zeit für mich, ein neues Leben anzufangen. Leicht ist es nicht.

„Ja. Ich dich auch.“ Das waren die letzten Worte, die mein Opi am Telefon zu mir gesagt hat, die ich in meinem Leben je von ihm hören sollte. Heute vor einem Jahr.

Minuten später wurde ihm schwindelig, er bekam keine Luft mehr, ihm war den ganzen Tag schon übel gewesen, dann wurde er ohnmächtig und dann hörte mein Opi auf zu existieren. Sein Leben war zu Ende. Für immer. Einfach so.

Opi hat es geahnt

Ich bin mir sicher, er hat es geahnt. Später habe ich erfahren, dass er am selben Nachmittag zu seiner Betreuerin gesagt hat: „Ich glaub‘, ich geh‘ heute zu meiner Frau.“ Zu Omi. Nach 61 Ehejahren war sein Leben ohne sie einsam.

„Wenn ich zuerst gehen sollte, dann wird der Opa nicht lange bleiben, du wirst schon sehen. Der kommt dann bald nach. Der weiß doch gar nicht, was er ohne mich machen soll“, hatte Omi gemeint und wie immer sollte sie Recht haben. 221 Tage hat Opa es ohne seine Frau ausgehalten. Keinen einzigen länger.

Er ist gestorben, wie er gelebt hat. Anders als Omi, die so sehr am Leben hing, hing er vor allem an Omi.

Der schlimmste Tag meines Lebens

Da war er also – der Tag, vor dem ich ein Leben lang Angst gehabt hatte. Der 21. April 2017. Der Tag, der mein Leben unerbittlich in zwei Teile spalten würde: in „mit Omi und Opi“ und „ohne Omi und Opi“, altes Leben und neues Leben. Genau ein Jahr ist er jetzt her. Ich konnte bis heute nicht darüber schreiben.

„Dein Tod ist etwas, das allen anderen passiert“, sagt Sherlock in einer Folge. Und es stimmt. Omi und Opi haben es hinter sich, die letzten Jahre voller Schmerz und Ohnmacht und Krankheit und Angst. Übrig geblieben bin ich. Mit mir diese Leere. Diese Müdigkeit. Dieses dumpfe Kratzen in der Mitte meines Brustkorbs. Dieser bleierne Nebel in meinem Kopf.

Trauer braucht Zeit

Ja, es hat gedauert. Ich habe getrauert. Geschlafen. Gegessen. Geweint. Mich verpuppt. Und mich irgendwann zaghaft gefragt: Was mache ich denn jetzt bloß mit diesem Leben?

Das Kratzen hat sich gelegt, der Nebel hat sich gelichtet. Ein bisschen. Meine Trauer ist nach und nach einem Gefühl von Dankbarkeit gewichen. Dafür, dass ich meine Großeltern 40 Jahre lang haben durfte. Dass sie mir ihr Bestes mitgegeben haben. Dass ich ihre Liebe für mich noch in aller Wärme spüren kann, obwohl sie nicht mehr leben. Oft habe ich an Omis Worte im Krankenhaus gedacht: „Es war schon alles ganz in Ordnung so. Ich wünschte nur, ich hätte mehr gemacht. Mehr an mich gedacht. Nicht nur gearbeitet und mich um die Familie gekümmert. Mach‘ du mal dein Spiel, Kind.“

Mein Spiel, Omi. Was soll mein Spiel sein? Eine Antwort darauf zu finden, auch nur eine Idee davon zu bekommen, war ein zäher, langer, verknoteter Prozess.

Pläne machen hilft

Ungezählte Augenblicke und Atemzüge später glaube ich, es herausgefunden zu haben. Jedenfalls für den Moment. Mein Leben ist leerer ohne Omi und Opi – aber ich bin auch freier. Also werde ich das tun, was ich vor 20 Jahren schon tun wollte: Versuchen, Geschichte zu studieren. Besser gesagt: mich darauf vorbereiten. In Schottland. Genauer gesagt: in Glasgow. Und vor allem dort weiter als Journalistin und Autorin zu arbeiten. Das ist ein Lichtblick, ein Fenster, ein Funken Freude und Glück.

Vielleicht ergibt das wirklich keinen Sinn. Aber muss denn alles Sinn ergeben? Geschichte war in der Schule mein Lieblingsfach und begeistert mich nach wie vor. Schottland ist ein beeindruckendes Land, bei meinen Besuchen habe ich mich überraschend zu Hause gefühlt. Was, wenn es für jeden einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gibt?

Vielleicht scheitere ich grandios. Aber muss denn alles immer gelingen? Neuanfänge sind meine Spezialität. Ohne Resilienz hätte die ich die vergangenen zehn Jahre mit Scheidung, Hausverkauf, Krebs, Herzschmerz und viel zu viel Trauer, Tod und Sterben nicht überstanden.

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Erst mal probiere ich es aus. Mit dem Access Programme, der Hochschulvorbereitung für ältere Studierende. Wenn das nichts wird und auch das mit dem Arbeiten von dort aus nicht klappt, fange ich noch mal von vorn an. Und noch mal. Und noch mal. Bis es irgendwann vorbei ist.

Vielleicht, ganz vielleicht, wird das Abenteuer Glasgow ja aber auch wundervoll und inspirierend. Ich arbeite, schreibe, lerne und lebe eine Zeit lang in einer Stadt, die mich glücklich macht, unter majestätischen Plusterwolken voller Regen, der die Wangen rötet, gescheucht vom Wind, der die Haare zerzaust. „Duchthas“ lautet das gälische Wort für das Gefühl, sich mit einem Ort verbunden zu fühlen.

Neues Leben in Schottland

Keine Ahnung, ob aus dem Neuanfang in Schottland was Längeres wird. Ob ich scheitere. Ob ich es bereue. Ich lasse hier fantastische Freunde zurück. Eine Festanstellung. Eine schöne Wohnung. Aber das Risiko gehe ich ein. Ich will es wenigstens versuchen, ja, ich muss sogar – oder um es mit Hesse zu sagen: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“

Ich glaube, Omi und Opi freuen sich.

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