Ich möchte euch die Geschichte vom magischen Theater erzählen. Es gibt da nämlich einen verwunschenen Ort, das Britannia Panopticon Glasgow, den ich zufällig entdeckt habe und der mich nicht mehr loslässt. Es ist die älteste noch existierende Music Hall der Welt: das Britannia Panopticon Glasgow. Hier feierte Stan Laurel 1906 mit zarten 16 Jahren sein Bühnendebüt.

Versteckt liegt der Eingang heute in einer schäbigen Seitengasse. Vor der Tür stehen zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau. Ich frage vorsichtig: „Entschuldigung, ich suche das Panopticon. Ist das hier irgendwo?“
„Oh, du bist hier so was von richtig, Liebes“, antwortet die Frau, in deren Stimme ein warmer Singsang liegt. Sie heißt Judith und schickt mich nach oben.

Verborgener Schatz

Das Treppenhaus ist unscheinbar, schmucklos, heruntergekommen. PVC auf den Stufen, herabhängende Kabel an der Wand, Muff in der Luft. Doch als ich die Tür zum alten Saal öffne, betrete ich eine andere, eine fabelhafte Welt. Das Britannia Panopticon Glasgow ist wie ein Portal, vergleichbar mit dem Narnia-Kleiderschrank, Gleis 9 3/4 bei Harry Potter, dem Kabinett von Dr. Parnassus oder Pippi Langstrumpfs Dachboden. Ich fühle mich sofort Zuhause.

Tor in eine andere Welt

Überall liebevoll zusammengestellter Nippes – Lichterketten, Kristallkaraffen, Schilder, alte Plakate, Stühle, alte Kostüme aus vergangenen Jahrhunderten auf Kleiderpuppen. So viel zu bestaunen und entdecken, als würde sich alles verändern, sich die Gegenstände neu sortieren, sobald man kurz die Augen schließt.

Der Ort, von dem ich als Neunjährige geträumt habe – ein magisches Theater, an dem alles möglich scheint und die Realität draußen bleibt.

Ein spukender Schimpanse?

Judith ist inzwischen auch nach oben gekommen und führt mich zu einer rotweiß gestreiften Bar am gegenüberliegenden Ende. „Das sind unsere hauseigenen Evil Twins“, sagt sie und zeigt auf zwei äußerst harmlos aussehende junge Frauen hinter der Theke: Debbie und Becca.
„Hi! Wir sind gar nicht so evil“, sagt eine der beiden.
Ich hingegen sage: „Oh mein Gott, ich wollte schon immer mal evil Twins treffen! Wie außerordentlich großartig!“ und piepse dabei aufgeregt. Es ist mir ein bisschen peinlich, aber bloß kurz.
„Habt ihr denn auch Gespenster hier im Theater?“ frage ich anschließend halb ironisch.
„Selbstverständlich, drei sogar“, sagt Debbie oder Becca. „Simon, der Schimpanse. George, der ehemalige Stage-Manager und eine Lady in Black – die Witwe eines ehemaligen Besitzers, die nach seinem Tod die Geschäfte übernommen hat.“

Ich muss minimal verstört geguckt haben, denn Becca oder Debbie beschwichtigt umgehend: „Alle total harmlos! Simon klaut manchmal Gegenstände und legt sie woanders hin, George sorgt dafür, dass alles läuft – nur Zaubershows kann er nicht leiden, da klappt nichts und da platzen dann auch mal die Glühbirnen. Und die Lady in Black sitzt schweigend in der hinteren Reihe und schaut zu. Sagen jedenfalls die Besucher, die sie gesehen haben.“
„Ah, verstehe! Wie toll! Ähm, ein Schimpanse?“
„Ja, hier war vor hundert Jahren mal ein Zoo im Keller. Frag nicht.“ Debbie oder Becca lächelt, die andere auch.

Bewegte Geschichte

Bis 1857 stand an dieser Stelle ein Lagerhaus, erfahre ich, dann wurde das Gebäude in ein Varietétheater umgebaut. Im Laufe der Jahre hatte es viele Namen: „Campbell’s Music Salon“, „Britannia Music Hall“, „The Grand Panopticon“… Rund 1500 Leute passten zu Beginn – eng an eng, aber anders kannte man es damals kaum, – in den Saal, konnten dort Tanzshows, Akrobaten, Kinderstars, Trapezkünstler und Tierdressur-Nummern bewundern, ein bisschen eskalieren, sich vom Arbeitsalltag in den Fabriken und Docks ablenken.

Ende des 19. Jahrhunderts bekam die Britannia Music Hall als eins der ersten 300 Gebäude in Glasgow Zugang zu Elektrizität. Damit wurden die allerersten bewegten Bilder der Welt abgespielt. Doch 1905 war die alte Dame dann so von der Zeit überholt, dass sie ermattet schließen musste.

Bis ein findiger Unternehmer namens Pickard sie wieder wachküsste. Er war Betreiber des Wachsfigurenmuseums im selben Haus und verwandelte die Britannia Music Hall 1906 in „The Grand Panopticon“. Auf dem Dachboden hatte er einen kleinen Jahrmarkt mit verschiedenen Spielen aufgebaut, berühmte Leute als Wachsfiguren aufgestellt und ein Kuriositäten-Kabinett eingerichtet. Im Keller befand sich „Noahs Arche“, ein Zoo mit Reptilien, einem Bären, verschiedenen Vogelarten. Und Affen. Einer davon war offenbar Simon, dessen Geist hier noch heute Schabernack treibt.

[Mehr zur Geschichte des Britannia Panopticons findet ihr hier!]


Zauberhafte Show im Britannia Panopticon Glasgow

„Du hast Glück, gleich findet eine Show statt“, sagt Judith und ich verspreche, sie mir anzuschauen. Sie spielt in der Zeit des ersten Weltkrieges, The Great War, der vor 100 Jahren in Europa wütete. Auf der Bühne eine Mischung aus Gesang, Geschichte und rührend aus der Zeit gefallener Stand-Up-Comedy. Es gibt einen News-Stummfilm, wie er vor 100 Jahren genau hier gezeigt wurde: Die Bestattung des abgeschossenen Barons von Richthofen mit militärischen Ehren. Und einen Film von Charlie Chaplin, „The Cure“, der von einer Dame mit Trompete und einem Geiger mit merlineskem Rauschebart liebevoll live untermalt wird.

Die meisten hier gehören, wenn ich das richtig verstehe, zu einem Trust und einer Reihe von Unterstützern, die diese Music Hall am Leben erhalten und mit Leben füllen. Es gibt hier Drag Shows, Haunted Sleepovers, Cajun-Shows, Filmabende

Ich ertappe mich, wie ich mit vor Lächeln fast schmerzendem Mund „Daisy, Daisy give me your answer, do!“ mitsinge und sogar ein bisschen schunkele. Mein Herz ist weit geöffnet. Ich bewundere den Enthusiasmus und die Leidenschaft der Menschen hier sehr.

„Ich würde mich gern hier im Theater einbringen, wenn ich bald in Glasgow wohne“, sage ich zum Abschied und meine es aufrichtig.
„Unbedingt! Wir können jede helfende Hand gebrauchen, wir würden uns wirklich freuen“, sagt Becca oder Debbie, „Sei jederzeit herzlich willkommen und Teil unserer verrückten Familie.“

Als die Tür zum Britannia Panopticon Glasgow, dem magischen Theater, hinter mir zufällt und ich pfeifend Richtung Flughafen schwebe, denke ich: Judith hatte Recht. Ich bin hier so was von richtig.

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