Meine Uni-Zeit beginnt mit Getöse und Gebrüll. Es ist meine Ersti-Woche mit über 40 und worauf habe ich mich da bloß eingelassen?

Montag. Erster Tag der so genannten Fresher’s Week. Ich bin für die Fresher’s Address – eine Reihe von Reden, gerichtet an die neuen Studierenden – etwas knapp dran. Der Weg zum Campus ist randvoll mit Leuten, die Flyer für Schaum- und andere zwielichte Partys verteilen. Ich würde zwar keinen annehmen, bin aber trotzdem aus Prinzip ein bisschen beleidigt, wenn man mir nicht wenigstens einen anbietet.

Die Bute Hall ist proppenvoll, nur ein Platz in der ersten Reihe ist noch frei. Nun gut, es gibt Schlimmeres. Plötzlich Grollen und lauter werdender Singsang. Nach und nach kommen immer mehr Studierende in bunten T-Shirts oben auf die Galerie. Es sind Freiwillige aus den vier Studierenden-Vereinigungen: Queen Margaret Union, Glasgow University Union, Student Representative Council und Glasgow University Sports Association. Sie machen Lärm, und zwar so richtig.

Was sie so ausdauernd brüllen und singen? Keine Ahnung. Um mich herum verwirrte Ersti-Gesichter, ich klatsche aufgeregt in die Hände. Aber jeder hat ja so seine eigenen komischen Angewohnheiten. Die von der GUU halten irgendwann einen Schuh hoch, wie die Sandale in Das Leben des Brian. Später frage ich, ob das mit dem Film zu tun hat. Doch die Kids kennen ihn überhaupt nicht. Seufz.

Als die Würdenträger in ihren Roben in die Bute Hall einziehen, müssen wir aufstehen, dürfen uns dann aber freundlicherweise wieder setzen.

Und dann kommt die Rede von Rektor Aamer Anwar.

Er war in den 1980ern und 1990ern selbst Student an der Uni. Und was er sagt, trifft mitten ins Herz. Hier ein Auszug:

„Es stand noch nie so viel auf dem Spiel (…) In ganz Europa beschäftigen sich heute führende Politiker mit Ideen, die einst am Rande des Faschismus’ standen (…) Sie sähen Spaltung und Verzweiflung und wollen, dass wir nicht nur unsere Grenzen, sondern auch unsere Herzen schließen (…) Wir erwarten von euch, unseren Studierenden, dass ihr euch dagegen wehrt (…) Zyniker werden sagen, dass man das System nicht bekämpfen kann. Aber all die Dinge, die wir in diesem Land für selbstverständlich halten (…) galten einst als unmögliche Träume (…) Gewöhnt euch niemals an unaussprechliche Gewalt. Und vor allem: Schaut niemals weg (…) Freiheit und Gerechtigkeit werden euch nicht auf dem Silbertablett serviert, wir müssen immer dafür kämpfen (…) Macht diese Zeit hier zu eurer, haltet eure Träume am Leben und habt niemals Angst, eure Stimme für die Wahrheit zu erheben.“

[Hier könnt ihr die ganze Fresher’s Address im Video sehen]

Ich fühle mich elektrisiert, mitgerissen und dankbar, Teil einer solchen Uni zu sein. Nach der Fresher’s Address eile ich zwecks Einführung runter zum Boyd Orr Gebäude, das leider exakt so aussieht, wie es klingt.

Es ist schon die zweite Veranstaltung dieser Art und wenn es eine Botschaft gibt, die die Uni Glasgow wirklich sehr, sehr dringend rüberbringen will, dann lautet sie: Wir sind für euch da.

Es gibt unglaublich viele Hilfs- und Unterstützungsangebote. Wie man Essays schreiben lernt und besser Notizen macht, IT-Kurse, Bib-Einführung, was passiert, wenn man das Fach wechseln will. Doch die Hilfe ist nicht nur fachlich, es gibt Support auf allen Ebenen. Dazu gehört Beratung bei finanziellen Fragen und Krisen genau so wie Unterstützung bei Mental-Health-Problemen und für Menschen mit Behinderung; es gibt Anti-Stress-Programme und während der Examenszeit sogar einen Raum, in dem Hunde gestreichelt werden können.

Ich bin keine Mutter, ich bin Studierende!

Zum Abendbrot gibt’s Pizza bei Tony’s auf der Gibson Street, bevor es zum Gin Freshtival in der GUU geht. Ich eröffne den Abend mit „I’m nobody’s mum! I’m a student myself!“

Von Gin mit Erdbeergeschmack kann ich nur abraten, aber Brockmans geht immer; besonders gut auf tannengrünen Chesterfield-Sofas unter gediegenem Eichenpaneel. Anschließend gibt’s mehrere Runden Bier, ein vergeigtes Pub-Quiz (ich bestehe darauf, unser Team Space Invaders zu nennen; niemand kennt Space Invaders), meine erste Fahrt im Uber, einen fürchterlichen Kater. Tja, so ist das in der Ersti-Woche mit über 40.

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Dienstag dann mit Sonnenbrille auf zur Fresher’s Fair, auf der sich alle möglichen Clubs und Societies vorstellen. Darunter die Dr. Who Society, Shrek-Society, Pole Dance Society, Marxist Society und die Bad Movies Society.

Ich selbst bin (so nehme ich jedenfalls an; ich war ja durchaus nicht unverkatert) inzwischen Mitglied der History Society, Malt Whisky Society, Scottish Literature Society, Jane Austen Society und der Europa Society. Und das alles noch neben meiner Mitgliedschaft in der Sherlock Holmes Society Scotland! Mittags gibt’s Pizza in der Uni-Mensa. Spottbillig und echt okay. Wenn man die Pilze weglässt.

Am Mittwochabend gehe ich mit Pete zum Ceilidh. Pete und ich haben uns auf einer Campus-Tour getroffen, er ist Schotte, aus Dundee und wird vielleicht mal ein verrückter Wissenschaftler. Ceilidh ist jedenfalls eine Art schottischer Volkstanz, den man sich ungefähr so vorstellen muss wie eine Mischung aus Square Dance und dem, was Jack und Rose unten auf der Titanic getanzt haben. Organisiertes Chaos, wildes Rumspringen, Stolpern, Spaß. Pete und ich schlagen uns recht wacker und beschließen, das künftig öfter zu machen.

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Beim Mature Students Association Lunch am Donnerstag gibt’s – Überraschung! – Pizza im McIntyre Building. Danach machen mein Kommilitone Grant und ich noch eine Campus-Tour. Und entdecken drei Abkürzungen und zwei bislang unbekannte Cafés. Anschließend weiht uns Gillian auf der Library-Tour in die Geheimnisse der Bibliothek ein. Es gibt nämlich nicht nur noch zwei selten benutzte Extra-Fahrstühle – es gibt auch einen Familien-Raum und ein Soundlab mit vier Klavieren.

Am Freitag geht’s dann (unverkatert) zur Taster Session vom Historical Swordsmanship. Ich erwarte im Grunde einen breitschwertschwingenden Jamie Fraser im Kilt, bekomme aber eher… sagen wir mal, etwas komplett anderes. Grant und ich setzen uns müffelnde Masken auf und mit dreschen mit Plastikschwertern aufeinander ein, während wir uns altmodische Beleidigungen zurufen. Ach, es gibt durchaus schlechtere Arten, einen Freitag zu beginnen. Dann gehen wir auf eine Art Schnitzeljagd zu allen Vorlesungsräumen. Was nicht dumm ist, weil wir zwei davon beinahe nicht gefunden hätten. Zum Abschluss? Richtig, Pizza.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Und ich merke: Die Fresher’s Week ist mehr als eine Woche lang exzessiver Alkoholgenuss und grober Unfug. Sie hilft dabei, ein Leben neben der Uni zu entwickeln, Bekanntschaften und soziale Netzwerke zu knüpfen. Einige machen das auf Massaoke- und Schaumparties, andere bei Gin-Tastings und Pub-Quizzes.

Sie bietet die Gelegenheit, eine erste grobe Orientierung auf diesem ebenso atemberaubend schönen wie riesigen und verwirrenden Campus zu finden. Wo sind meine Vorlesungen, schaffe ich das von A nach B? Gibt’s Abkürzungen? Wo bekomme ich schnell und/ oder gut Kaffee oder Pizza? Wo fährt der Bus, wo sind Toiletten? All die wichtigen Kleinigkeiten.

Und sie dient dafür, ein Gespür für die Uni als Institution zu bekommen. Welche Werte sind hier wichtig? Und ich habe das Gefühl, zum ersten mal seit sehr, sehr langer Zeit, am richtigen Ort zu sein.

Das war sie, meine erste und einzige Ersti-Woche mit über 40. Nein, keine Schaumparties für mich. Die Fresher’s Week war anstrengend, inspirierend, erhellend und hat sehr großen Spaß gemacht. Die Uni kann also losgehen, ich wäre dann soweit.


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