Die Uhr zeigt 23 an – und nichts passiert. Kein Donnerhall, kein Blitzschlag, keine Vögelchen, die tot aus den Bäumen plumpsen. Kein metaphysisches Beben beim Brexit in Schottland.

Es ist ein bisschen so wie damals, kurz nach Mitternacht am 1.1.2000, als das Apokalyptischste die Tatsache war, dass ich beim Feuerwerk an der Alster mit beiden Füßen in einen Riesenhaufen Hundescheiße getreten bin.

Dabei ist der 31.1.2020, 23 Uhr, der Zeitpunkt, an dem Großbritannien – infolge der Geisteshaltung eines Landes, das eher den Namen Kleinbritannien verdienen würde – die Europäische Union verlassen hat. Brexit. Eine Art politisches Äquivalent zum Riesenhaufen Hundescheiße von 2000.

Trotzig stelle ich meine Box auf volle Lautstärke und lasse Auld Lang Syne aus dem Fenster auf die Straße dröhnen. Die melancholische Vertonung von Robbie Burns’ Gedicht und nostalgische Abschiedshymne ist mein halbprivater Heimprotest. Das Lied, das die EU-Parlamentarier*nnen händchenhaltend gesungen haben. Ein Mann in Lederjacke geht vorbei, er hebt nur kurz den Kopf.

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Schottland hat damals 2014 beim Unabhängigkeits-Referendum hauptsächlich deshalb mit knapper Mehrheit für den Verbleib im United Kingdom gestimmt, um Teil der EU bleiben zu können. Nur, um dann 2016 infolge des Brexit-Referendums – bei dem Schottland folglich mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hat – gegen seinen Willen aus der Europäischen Union gerissen zu werden.

Die Scottish National Party hat hier im Dezember mit großer Mehrheit und einem klaren Bekenntnis zu Europa und zur Unabhängigkeit die Wahl gewonnen. Das schottische Parlament hat gegen das Brexit-Abkommen gestimmt. Doch was interessiert Westminster, was hier oben im Norden geschieht.

Leave a light on for Scotland.

Brexit in Schottland – it’s happening

Jedenfalls: Großbritannien ist jetzt kein EU-Mitglied mehr, Brexit in Schottland wird Realität und erst mal passiert… nichts.

So langsam wird jedoch klarer, welche Auswirkungen der Brexit auf das Leben der Brit*innen haben wird. Kein Roaming mehr im Ausland, nur noch drei Monate ohne Visum in EU-Ländern abhängen zum Beispiel. „Das wird dann auch der so genannte ’Sun-Voter’ merken“, sagte meine Kommilitonin am #BrexitDay zu mir. „Mal sehen, ob sie dann immer noch so überzeugte Brexiteers sind.“

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Meine Antwort: „Ich fürchte, dass ihnen diese Einschränkungen als ‚Rache der EU‘ verkauft werden. Obwohl das in etwa so ist, als wenn du deine Mitgliedschaft im Fitnessstudio kündigst und dann beleidigt rumpöbelst, weil du nicht mehr umsonst in die Sauna darfst.“

Logik spielt schon lange keine Rolle mehr. Gemeinsames schweigen und nicken.

Was bedeutet der Brexit für die Menschen hier?

Was der Brexit in Schottland perspektivisch insbesondere für mich als EU-Bürgerin bedeutet – also, ob und wie lange und unter welchen Bedingungen und Umständen ich wirklich hier in Glasgow bleiben kann – das vermag derzeit niemand verbindlich zu sagen. Und das macht mir schon lange Bauchweh. Doch ein Mensch kann nicht dauerhaft im Panik-Modus verweilen; irgendwann wird selbst die unklarste, absurdeste Situation zur neuen Normalität.

So geht es vielen hier in UK und Schottland nach den Jahren des Brexit-Gezerres. Nicht so sehr ein „Let’s get Brexit done“, sondern eher ein „Oh, for Christ’s sake – let’s get it over with!“ Die Menschen hier haben die Schnauze voll, sie sind müde und mürbe.

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Oder sie haben – und das betrifft vor allem die Älteren, mit denen ich spreche – keinen echten Bezug zu Europa. „Als ich jung war, gab’s noch keine Europäische Union so wie heute. Und da war das Leben auch in Ordnung, Reisen war kein Problem. Ich verstehe die Aufregung nicht“, hat neulich eine Kosmetikerin zu mir gesagt. Und weiter: „Wieso die jungen Leute alle glauben, es würde so gehören, dass sie einfach überall hinkönnen – verstehe ich nicht. Konnten wir früher auch nicht. Wieso ist das ein Problem?“

Für mich persönlich ist es das, weil ich mich hier zu Hause fühle und ich in der Tat zu denjenigen gehöre, die finden, Menschen sollten sich ihren Ort aussuchen und dazugehören dürfen, planen und etwas aufbauen können.

Meine Hoffnung? Schottland

Ich setze also meine Hoffnung in die schottische Regierung und ihr Bekenntnis zu und Engagement für Menschen aus EU-Ländern. Schottland ist auf Einwanderung angewiesen und ein offenes, freundliches Land. Ich fühle mich hier willkommen und wünsche mir, dass das so bleibt.

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Trotzdem ist klar: Das Leben hier in Großbritannien wird anders werden, das Leben nach und mit dem Brexit in Schottland wird anders werden. Nicht um Punkt 23 Uhr, nicht dieses Wochenende, auch nicht nächsten Monat – sondern ganz allmählich. Der Brexit wird spürbar, vor allem für die Schwächeren der Gesellschaft. Und spätestens am 1.1.2021, wenn die Übergangsfrist endet.

Ich stelle die Box leiser. Es ist vorbei. Aber eigentlich fängt es gerade erst an.


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