Hab’ keine Sorge, Omi. Ich werde mich an dich erinnern, wenn deine Hände eines Tages kalt und deine Augen geschlossen sein werden. Ich werde mich an alles erinnern. An alles, was dich ausmacht. 

Daran, wie du als Kind stummschreiend um deine verunglückte Kusine getrauert hast; an deine Geschichten von Zuhause, von Flucht, Bomben und Hungersnot und Läusen, so vielen Läusen, überall. An deinen Wunsch, Friseurin oder Kindererzieherin zu werden und dass du das nicht werden durftest, weil du Geld verdienen musstest.

Daran, wie du dich immer ein bisschen geschämt hast wegen deiner vielen Geschwister und wie ihr als Erwachsene aber unzertrennlich wart, jedes Wochenende zusammen gefeiert, nacheinander Kinder bekommen und großgezogen habt. Wie du wolltest, dass ich geboren werde. Daran, wie du immer sagst: „Kinder muss man bloß lieben, der Rest passiert von allein“, wie du mich in eine Schaukel im Türrahmen gesetzt und mir mit Links Schwung gegeben hast, damit du kochen und gleichzeitig auf mich aufpassen konntest.

An deine stets dauergewellten Haare, die morgens zu Berge stehen wie bei deinem Vater und wie sie sich von braun zu grau zu weiß verwandelt haben. An die Lockenwickler und das Haarnetz und die Kopftücher, die du jahrzehntelang getragen hast, weil das in deiner Jugend modern war, und dass du sie seit ein paar Jahren durch bunte Mützen ersetzt.

An die überraschend glatte Haut deiner kleinen Hände, die ein Leben lang fleißig waren und es noch sind. Sie sind nur müde und gichtgeplagt. Daran, wie du abends nach dem Abwasch im Unterrock mit mir in der Küche ohne Musik getanzt hast, als mein Kopf im Stehen noch an deinen weichen, runden Bauch passte. Und wie der wackelt, wenn du richtig lachst.

Daran, wie du mich gebadet und meine Haare gewaschen, wie du mich auf den Toilettendeckel gestellt und abgerubbelt hast, weil ich das so gern hatte. Wie du mir jeden Abend vorm Schlafengehen die dicke Daunendecke aufgeschüttelt hast, während ich darunter lag. Wie du mir eine Wärmflasche ins Bett gelegt hast, wenn ich kalte Füße hatte. An das Schlaflied, das du mir gesungen hast mit deiner nicht so hellen Stimme. Daran, wie meine kleine Hand nicht bis um deinen Bauch herum kam, wenn ich das große Löffelchen sein wollte. An deinen Geruch, diesen warmen, erdigen, cremigen Geruch deiner Haut, der mein Zuhause ist.

Daran, wie wir zu dritt mit dem Auto in den Urlaub gefahren sind und ich hinten auf der Rückbank schlief und du mich manchmal vorne sitzen lassen hast, weil ich dann die Welt besser sehen konnte. Wie ich Regenwürmer gesammelt und dich damit erschreckt habe, weil du alles, was schlängelt, widerlich findest und daran, wie lieb zu Spinnen und wie gnadenlos zu Mäusen du bist.

An das Graublau deiner Augen, das wie meines ist, und daran, wie du immer „das kleidet mir, Blau ist meine Farbe“ sagst, wenn du etwas Blaues anhast. Daran, dass du stets Ohrringe und eine Kette trägst und wie du uns so oft erzählst – wenn wir in Jogginghose auf deinem Sofa sitzen – dass du früher „sehr elegant gekleidet“ warst – bevor du erst eine Mama und dann eine Oma im Kittel wurdest. Dass du „nur das Feinste“ gekauft hast und wie dein Kleiderschrank abgebrannt ist, als du in Stellung beim Schlachter warst und dir dein Chef viel zu wenig Geld dafür gegeben hat. Daran, dass ich dich das erste Mal in den 90er Jahren mit einer Hose gesehen habe. Du hattest bis dahin selbst im Winter einen Rock an. Daran, dass „Loulou“ dein Lieblingsparfüm ist.

Ich werde mich erinnern. An deine Ente mit Rotkohl und Soße. Deinen legendären Kartoffelsalat mit der magischen Mayonnaise. An die Pfannen im Ofen und dein zähes Roastbeef. An die ungelesen Gesunde-Küche-Kochbücher, die ich dir nach deinem Herzinfarkt schenkte. Daran, wie du in den 90ern moderne Küche ausprobieren wolltest und plötzlich Zucchini-Hack-Pfanne statt Kassler auf den Tisch kam. Daran, wie du seit Neuestem Couscous magst. Daran, dass deine Nudeln immer zu weich sind und dein Gemüse stets verkocht ist und dass niemand je das Richtige für dich einkaufen geht.

Ich werde mich erinnern. An dein erstes Raclette und wie lustig du den Tatortreiniger findest. Daran, wie deine ganze Wohnung einer Spezialbücherei für Thriller gleicht und wie du immer sagst: „Die Deutschen Triller taugen nichts, die kannst du in der Pfeife rauchen“ und wie schwer es ist, Lesestoff für dich zu finden. Daran, wie du Opis Gesicht beim Küssen in beide Hände nimmst und wie du ihn immer „Liiieblink“ mit langem i und k nennst.

An die Art, wie du „Purzelinchen“ sagst und wie du manchmal beim Sprechen halbe Sätze singst, wenn du gute Laune hast. Daran, wie leicht sich mit ein paar guten Argumenten deine Meinung ändert und dass das bei mir genauso ist. An deine Offenheit. An deinen Mut und Durchhaltewillen. An deine Tapferkeit und dein großes Herz. Daran, dass ich immer Freunde nach Hause bringen durfte und sie jedes Mal etwas zu Essen bekommen haben.

Daran, wie du mir Brot in Häppchen geschnitten, Äpfel geschält und die Kartoffeln vermust hast. An daumendicke Kühlschrankbutter und fingerstarke Käsescheiben. Wie du mir einen Teller Kekse ins Zimmer gestellt hast, als ich irgendwann mal wieder die ganze Nacht unterwegs war. Wie du „Ein paar Herzen für mein Herzi“ in deiner kriegsbedingten Kinderschrift auf ein Stück Pappe geschrieben und es daneben gelegt hast.

Daran, wie du ein Puffer zwischen meinem und Opas Dickköpfen sein wolltest und es dich vor Stress und Kummer fast wahnsinnig gemacht hat. Daran, wie du noch jahrelang meine Wäsche gewaschen hast, als ich ausgezogen war und mir keine Waschmaschine leisten konnte. Daran, wie stolz du auf meinen Abschluss als Jahrgangsbeste warst und wie gern du mich in Uni-Talar gesehen hättest. Wie du dir für meine Hochzeit extra eine Bluse hast maßschneidern lassen und eine passende Rose im Haar trugst und wie gefasst du mit meiner Scheidung umgegangen bist und dass du immer hinter mir stehst, auch wenn meine Entscheidungen für dich oft nicht nachvollziehbar sind.

Daran, dass du so gern andere Menschen aufziehst und neckst und oft nicht merkst, dass du fast immer den wunden Punkt triffst. Und wie du dann immer „Ach, das musst du abkönnen“ sagst. An das Leuchten in deinen Augen, als ich dir zu Weihnachten deine erste Puppe geschenkt habe. An die HB- und Lux-Zigaretten, die du immer gepafft hast, bis der Herzinfarkt es dir verboten hat und wie du inzwischen findest, dass Zigaretten „nach Hühnerscheiße“ stinken. Daran, wie du manchmal über Ärzte schimpfst – „diese Schweinebande“ – die oft zu wenig Zeit und zuweilen nicht genug Ahnung haben. An dein skurriles Faible für Krankenhausessen und dass „tadellos“ und „reell“ die höchsten Komplimente aus deinem Munde ist.

An dein Schlurfen. An dein Pusten und Ächzen. Dein Wanken. Daran, wie lange du für die Treppe brauchst. An die Schläuche und Spritzen und Eingriffe. An dein hilfloses Knurren, als du vor körperlichen und seelischen Schmerzen nicht mehr leben und auch nicht mehr essen wolltest und ich im Krankenhausbett das große Löffelchen war und meine Hand um deinen Bauch herum kam. Wie ich dich bürstete, weil Worte nicht mehr helfen konnten. An deinen aus Liebe wiedergeborenen Lebensmut, an deine kleine Hand in meiner und das Versprechen, doch noch ein bisschen hierzubleiben.

Daran, wie tapfer du erst fünf deiner Geschwister und schließlich deinen Sohn zu Grabe getragen hast auf den letzten Metern deines eigenen Lebens.

Daran, wie ich manchmal deine Haare wasche, weil du es nicht mehr kannst und wie ich dich dann abtupfe und deinen Rücken rubbele, weil du das so gern hast und wie du dann „Das tut gut, das könnte ewig so gehen“ sagst.

Daran, dass es eben nicht ewig so gehen wird.

Aber hab keine Sorge, Omi. Bis dahin schaffen wir jeden Tag neue Erinnerungen.

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