Es gibt Leute, die sagen „Diese Begegnung hat mein Leben verändert“. Was aber, wenn eine Begegnung tausende Leben verändert – und man hat gar keine Ahnung?
„Komm zu meinem Buch-Launch nach Los Angeles!“ Auf dem Handy-Bildschirm in meiner Hand strahlt mich Alua an. Sie sitzt im morgendlichen Bademantel in ihrem neuen Haus in Los Angeles, ich in Jogginghose in meiner Butze in Glasgow.
Alua und ich kennen uns seit Ende 2012. Wir haben uns während meiner sechsmonatigen Weltreise getroffen und aus dem Stand angefreundet. „Neue Freundinnen, verbunden durch die spezielle und eigentümliche Intimität von Alleinreisenden“, wie Alua in ihrem Buch Briefly Perfectly Human schreibt.
Über die Jahre haben wir den Kontakt nie ganz verloren. Mal näher, mal weiter weg, aber immer da. Es gibt Menschen, die gehören fest ins Leben – auch, wenn man sich zehn Jahre nicht sieht. Zuletzt trafen wir uns in Berlin 2014. Seitdem ist viel passiert. Viel Schönes, noch mehr Schmerzhaftes. Unter anderem habe ich mich nach dem Tod meiner Großeltern nach Schottland aufgemacht und Geschichte studiert. Immer ein Auge auf der Bucket List.
Alua ist unterdessen zur bekanntesten Death Doula der USA geworden.
Nicht nur begleitet sie Sterbende und ihre Zugehörigen beim zweiten großen transformativen Prozess des Lebens aus dieser Welt, hat einen TED-Talk gegeben und jetzt eben ein Buch geschrieben – sie bildet mit Going with Grace auch weltweit andere Death Doulas aus und ist Aktivistin für Death Positivity, also einen tabu-befreiten, offenen und entspannteren Umgang mit dem Tod. Denn der wartet auf uns alle. Und das Bewusstsein dafür hilft, ein authentischeres Leben zu führen. Besser vorbereitet zu sein. Nicht alles aufzuschieben.
Oder, wie Alua sagt: „Eat the cake.“
„Ich würde so gern, aber ich habe grad das Geld fürs Hotel nicht“, sage ich zu ihr. Mit fast 50 sollte ich deutlich besser situiert sein. Aber ich musste ja unbedingt auf Weltreise. Und Auswandern. Und studieren. Meine Death Positivity hat mir Bank Negativity beschert. Aber auch ein erfülltes Leben.
„Du schläfst bei mir“, sagt Alua. „Ich bestelle eine Gästecouch für mein Büro. Du musst unbedingt dabei sein.“
Flüge nach Los Angeles sind relativ günstig, 2024 ist Wahljahr in den USA und wer weiß, was im November passiert, Aluas Buchveröffentlichung liegt exakt zwischen meiner letzten Hausarbeit und meiner letzten Klausur… „Komm‘ schon“, flüstert der Tod. „Wer weiß, ob du je wieder die Gelegenheit hast…“ Der alte Schwarzmaler.
Eat the cake. Book the ticket.
Also auf nach Los Angeles. Für fünf Tage.
Erinnerung an Kuba
Sie steigt aus ihrem roten Jeep und wir springen uns am LAX quietschend in die Arme. Alua hat sich kein Stück verändert, ihre Gegenwart hüllt mich genauso warm und sonnig ein wie vor zehn Jahren. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Garten ihres frisch renovierten 1930er Bungalows, nippen am Tequila und ich starre staunend auf den prallvollen Zitronenbaum. Über uns kreist ein Hubschrauber. Willkommen in Los Angeles.
Sie sagt: „Danke für mein Haus.“ Ich antworte mit: „Wie jetzt?“ Und während sie mir ihre Geschichte erzählt, beginne ich langsam zu begreifen.
Als wir uns in Kuba trafen, ging’s Alua nicht gut. Sie trieb „in einem sinkenden Schlauchboot“ durch eine schwere Depression. Kuba sollte ein Lebensrettungsring sein. Es wurde viel mehr als das. Davon ahnten wir beide allerdings nichts, als wir nach der langen gemeinsamen Busfahrt schließlich in Trinidad de Cuba Rum mit Mangosaft tranken und zur Musik der Backstreet Boys auf dem Bett der Casa Particular hüpften. Als wären wir dreizehn, nicht in unseren Dreißigern.
Über Tod, Trauer und Sterben zu reden, war für mich ein Ventil. Ein Versuch, mit dem Erlebten umzugehen. Für Alua war es der erste Schritt in ein neues Leben. „Unser Gespräch hat mich inspiriert“, sagt sie in ihrem Garten, „und mich auf diesen Weg geschickt.“ Unsere Begegnung Ende 2012 mag die mentale Inspiration gewesen sein, der Tod ihres Schwagers Peter Saint John ein Jahr später hat Alua die praktische Seite des Sterbens gezeigt: „Peter taught me how to be a death doula.“
Noch lebende Legende
Doch unsere Begegnung im Bus in Kuba ist, so erfahre ich, ein wichtiger Teil ihres Narratives. Die Ursprungsgeschichte. Alle, mit denen Alua gesprochen, die sie ausgebildet hat, haben davon gehört. Haben von mir gehört. Von der Krebssache und meiner Entscheidung, auf Weltreise zu gehen statt auf Kur nach St. Peter Ording. Von meinem Impuls, keine Minute mehr zu vergeuden, Träume nicht aufzuschieben.
Es kommt nicht oft vor, aber mir fehlen die Worte. Ich fühle mich tief geehrt, geschmeichelt und geniere mich ein bisschen. Ich werde innerlich und äußerlich rot. Immerhin habe ich nichts gemacht, außer – wie immer völlig entgrenzt und unfähig zu Smalltalk – einer Fremden im Bus meine Geschichte aufzunötigen. Ihre Fragen zu beantworten. Über den Tod zu sprechen. Die Angst davor und das Tabu.
Ich erinnere mich, wie „der Lauch“ damals vor der Weltreise zu mir gesagt hat: „Dass du den Leuten auf meiner Party von deiner Krebssache erzählt hast, das war zu viel. Du bist zu viel.“ Nein, Baby – ich schätze, du warst einfach zu wenig.
Glitzer, Glamour, Lebensfreude
So richtig mit Wucht trifft es mich, als wir am Tag von Aluas Buchpremiere bei ihr zu Hause ein Vorglüh-Brunch mit vielleicht vierzig Leuten haben.
„Oh mein Gott, du bist DIE Jessica!“ Fremde umarmen mich aufrichtig herzlich, als wäre ich eine alte Bekannte. Für jemanden wie mich, die den Großteil ihrer Zeit allein vorm Rechner verbringt, ist das – vorsichtig formuliert – überwältigend. Und ich bemühe mich nach Kräften, der Legende gerecht zu werden. Aber ich fühle mich wie eine Scheinriesin.
Noch nie in meinem Leben habe ich so viele inspirierende, warmherzige und diverse Menschen auf einem Haufen getroffen. Phänomenale Frauen, unterstützende Männer, alles dazwischen. Ihre Mutter nimmt mich an die Hand und stellt mich – DIE Jessica – allen vor. „Ja, es gibt mich wirklich und nein, ich binne nicht tot.“ Noch nicht.
Aber eines Tages, wenn es so weit ist, kann ich sagen: Mein kleines, flüchtiges Leben hatte einen Sinn. Für eine Person war ich der richtige Funke zur richtigen Zeit. Ego-Trip? Mag sein. Aber es wird mir eines Tages, wenn es so weit ist, hoffentlich den Abschied etwas leichter machen.
Am Abend dann die großartige Party für ein großartiges Buch eines großartigen Menschen. Ich lasse mich zu einem Paillettenkleid mit einem Dekolletee überreden, das selbst Mariah Carey zu gewagt gewesen wäre. Man lebt doch nur einmal.
Eat the cake. Show the titties. Do the dance.
Das Leben ist zu kurz für Rollkragenpullover.
Briefly Perfectly Human
Auf den neuneinhalb Stunden von L.A. nach Dublin verschlinge ich Aluas Buch. Es ist weise, witzig, tief berührend, persönlich und universell. Auf jeder Seite Glitzer und Liebe. So viel Herz, so viel Weisheit. Nur Tage später ist es auf der New York Times Bestsellerliste. Und Alua im nationalen US-Fernsehen.
In ihrer Widmung steht: „The impact you have had on my life and the life of millions will never be lost on me.“ Und das alles dank einer zufälligen Begegnung im Bus.
Mich hat das Thema Tod auch nie ganz losgelassen, ich habe Alua 2016 interviewt und einige Artikel zum Thema geschrieben – hier oder hier oder auch hier.
Aber auch, wenn Alua in ihrem Buch was anderes schreibt – ich hatte auf der Weltreise definitiv keine vernünftigen Schuhe an!
>>> Lest unbedingt Aluas Buch Briefly Perfectly Human, es ist hervorragend und bewegend und wundervoll!
Und hier ist ihr TED Talk:
PS: Ich bin freie Autorin und Studierende und das Betreiben dieses Blögchens kostet – genau wie alles andere im Leben – ein wenig Geld.Wer also mag, kann hier via BuyMeACoffee ein bisschen Trink-, äh, Schreibgeld dalassen. Dankeschön! <3
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