Liebe Omi,

heute bist du seit genau zehn Wochen tot und ich wünsche mir seitdem jeden einzelnen Tag, dass es im Himmel ein Telefon gibt… Jedenfalls kann mich so was wie der Tod nicht davon abhalten, dir wöchentlich zu schreiben, was so alles passiert ist.

Also.

Opa geht es nach der fiebrigen Erkältung inzwischen wieder deutlich besser und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr das mein Herz erleichtert. Aber nur kurz, denn die Trauer schlurft wie ein Schatten neben mir her. Mal dichter, mal weiter weg, aber immer da.

Neulich zum Beispiel kam mir auf dem Weg zur U-Bahn eine Omi mit Rollator entgegen: Klein, rundlich, weißgraue Locken unter einer Schiebermütze, etwas zu großer Mantel, Stoffhose. Sie ging ein paar Schritte und musst dann kurz stehen bleiben, weil sie keine Luft mehr bekam.

Ich habe sie gehört, Omi; sie hat genau so geatmet wie du, wie ein Fisch am Strand. „Ich puste schon wieder so, das ist heute ganz extrem“, hast du an solchen Tagen gesagt und ich konnte selten mehr tun als nicken und dich mit Worten trösten.

Als ich diese fremde Omi so schnaufen und nach Luft schnappen und japsen hörte, wallten zuerst Tränen in meinen Augen auf, gefolgt von dem Drang, sie zu fragen: „Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert? Geht jemand für Sie einkaufen oder mit Ihnen zum Arzt? So, wie sie sich anhören, müssen Sie mal wieder zum Kardiologen. Ich kann mitkommen! Ich kenne mich da aus! Möglicherweise haben Sie Wasser in der Lunge wegen der schlechten Pumpleistung des Herzens, aber mit vorsichtiger Medikamentengabe kann man da entwässern. Nehmen Sie denn Magenschutztabletten? Da müssen Sie aufpassen, Sie haben es doch sicher auch mit den Nieren und da gibt es welche, die sind ganz schlecht dafür. Warten Sie auch bloß nicht zu lange mit der Dialyse, Sie wissen schon, wegen des Nierenversagens. Gehen Sie lieber gleich zum Nephrologen. Nierenversagen ist nicht schön, wirklich nicht. Meine Omi ist daran gestorben und… Also, ich hoffe, Sie haben jemanden, der Ihnen durch die Tage hilft und Ihre kleine Hand hält und Sie tröstet, mit Ihnen zum Arzt und Pommes essen und einkaufen oder im Rettungswagen fährt und…“


Dann war sie auch schon an mir vorbei. Und sie sah aus wie du und mein Herz zog sich zu einem Klumpen zusammen.

Ach, Omi. Wird das irgendwann aufhören?

Weißt du, was komisch ist? Ich habe viele Sachen von dir – deine Lieblingstasche, eins deiner Nachthemden, den kleinen Engel auf meinem Nachttisch, Papiere, einen Kalender mit Glücksbotschaften für jeden Tag, deine roten Handschuhe und die passende Mütze, eine orangefarbene Rührschüssel, zwei Kochlöffel – aber das, was mir am wichtigsten ist, was mir am meisten am Herzen liegt, ist das breite, rote Einmachgummi.

Jaja, lach nur, Omi – aber so ist es. Damit hast du irgendwann die letzte umfunktionierte und mit Kartoffelsalat gefüllte Eispackung verschnürt, so dass ich sie mitnehmen und zu Hause weiter essen konnte, ohne dass ich wusste, dass es die letzte sein würde. Ich benutze es fast jeden Tag für mein Mittagessen und sollte es jemals reißen, werde ich für die meisten Menschen vollkommen unverständlich laut und lange weinen.

Ich vermisse dich so.

Ansonsten geht es mir aber ganz okay, Omi. Ich bin froh, wenn dieses grauenhafte Jahr vorbei ist. Obwohl ich nach dem Abwärtstrend der vergangenen Jahre wirklich Angst vor 2017 habe… Ich hoffe sehr, dass es dir so richtig prachtvoll geht da oben auf Wolke Sieben und du uns nicht allzu sehr vermisst. Also dann Omi, bis nächste Woche.

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 8: Der Wahnsinn bricht aus]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 7: Mir graut vor Weihnachten]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 6: Was mach‘ ich nur mit Opi?]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

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