Die Rosslyn Chapel ist seit Jahrhunderten ein Ort voller Mythen. Der Schatz der Tempelritter und der Heilige Gral sollen hier versteckt sein. Ein Besuch in einem Meisterwerk der Steinmetzkunst in Schottland.

VON JESSICA WAGENER

[Dieser Artikel erschien zuerst auf Reisereporter]

Als ich die Rosslyn Chapel betrete, wird es plötzlich ganz still. Eigentlich müssten die Schritte und Gespräche der Besucher von den steinernen Wänden widerhallen. Doch das tun sie nicht – im Gegenteil: Der Sound ist eigenartig gedämpft. Ein Gefühl, als hielte die Welt inne.

Zwischen grotesken Fratzen und fein gemeißelten Blüten beginne ich zu begreifen, warum sich ausgerechnet um diesen Ort seit Jahrhunderten wilde Legenden ranken. Willkommen in der geheimnisvollsten Kirche der Welt.

Sagenumwobene Zeichen in der Rosslyn Chapel

In Auftrag gegeben wurde die Rosslyn Chapel sieben Meilen südlich von Edinburgh im 15. Jahrhundert von William St. Clair, dem ersten Earl of Caithness. Die Familie St. Clair, später Sinclair, stammt von normannischen Rittern ab, die 1066 mit Wilhelm dem Eroberer nach England und Schottland kamen.

Der eigentliche Name lautet The Collegiate Church of Saint Matthew und der eigentliche Plan war viel größer gedacht, doch nach Sir Williams Tod 1484 stoppten die Bauarbeiten. Das Ergebnis ist dennoch beeindruckend: Fast jeder Zentimeter Oberfläche ist mit Mustern und Symbolen aus Bibel und Natur verziert.
Genau diese Symbole beflügeln seit Jahrhunderten die Fantasie. Sind es Zeichen der Freimaurer? Hinweise auf verborgene Schätze? Oder gar Noten für Musikstücke?

Neugierige Menschen jeden Alters wandern bedächtig durch die schmalen Gänge der Rosslyn Chapel, zeigen mit Fingern auf Figuren im hellgrauen Stein, wispern und staunen. Auf ihren Gesichtern das triumphale Leuchten der Erkenntnis, wenn sie ein Detail entdeckt haben. Es ist eine kleine Schatzsuche.

Die Rosslyn Chapel und der „Hollywoodkreis“

Die große Schatzsuche hat sich Schriftsteller Dan Brown ausgedacht. Sein 2003 erschienener Roman „Sakrileg“ stellt die Theorie auf, der Schatz der Tempelritter sei unter der Rosslyn Chapel verborgen. 2006 wurde das Buch verfilmt, und das hat laut Tourguide „das Leben hier für immer verändert“.

Vorher kamen jährlich etwa 36.000 Besucher in die Rosslyn Chapel, danach waren es 176.000. Seit Juli 2011 existiert hier ein modernes Besucherzentrum mit Café und Shop. Und 2017 gab es den bisherigen Rekord mit 181.700 Interessierten.

Der „Star of David“ – den Tom Hanks und Audrey Tautou im Film hier finden – ist das einzige Symbol, das es hier nicht gibt. „Sie haben es aufgeklebt, man kann die Reste noch sehen. Wir nennen es den ‚Hollywoodkreis‘“, sagt unser Tourguide und lacht. Sie erzählt, die vielen Verschwörungstheorien und Legenden hätten ihren Ursprung in der möglichen Doppelbedeutung vieler Symbole.

Allerdings ist die moderne Form der Freimaurerei viel später entstanden als die Rosslyn Chapel selbst. Einige der entsprechenden Symbole seien erst bei der Renovierung der Kapelle Mitte des 19. Jahrhunderts durch den vierten Earl of Rosslyn, seinerzeit Großmeister der schottischen Freimaurerlogen, als Ersatz für verrottete Verzierungen hinzugefügt worden.

Und die Rosslyn Chapel ist eben auch von reisenden Steinmetzen aus ganz Europa gebaut worden. Jeder von ihnen brachte eigene Ideen ein. Das sieht man auch an der sogenannten Meister- und der Lehrlingssäule, einem Highlight der Rosslyn Chapel.

Die Säulenlegende

Die Legende besagt, dass der Steinmetzmeister nach der Fertigstellung der einen Säule nach Rom gereist ist, um die gewünschten Verzierungen für die zweite Säule vor Ort zu untersuchen. Währenddessen soll sein Lehrling geträumt haben, wie er die Säule zu vollenden hätte. Als der Meister zurückkam, war der Lehrling mit der Säule fertig und das Ergebnis so atemberaubend, dass der Meister ihn vor lauter Neid erschlagen haben soll.

Ist das wirklich passiert? Ich lasse meine Finger über die präzisen Weinreben an der Lehrlingssäule gleiten. Nein, das hat kein Azubi gemacht. Später lese ich: Diese Legende war in weiten Teilen des mittelalterlichen Europas verbreitet und soll dazu gedient haben, die jungen Lehrlinge ihren Platz nicht vergessen zu lassen.

Hinter den beiden Säulen befinden sich Bögen mit über 200 rechteckigen Würfeln, auch sie mit Symbolen verziert. Es sind angeblich „chladnische Klangfiguren“ – das heißt: Die geometrischen Symbole darauf ähneln den Mustern, die Sand annimmt, wenn er auf einer Fläche mit Schallwellen in Berührung kommt.

Ein bestimmter Ton ergibt ein bestimmtes Muster. Ein Musiker und sein Vater haben diesen Code in ein Musikstück verwandelt, das 2005 in der Rosslyn Chapel aufgeführt wurde. Aber auch hier gilt eine gewisse Skepsis: Etliche Würfel wurden bei der Renovierung im 19. Jahrhundert ersetzt.

Musik gibt es an diesem Tag keine, stattdessen nur diese ungewöhnliche Ruhe. Trotz der vielen Besucher fehlt der kirchentypische Hall, sogar helles Kinderlachen wird geschluckt.

Das liegt, so erklärt mir ein Musikwissenschaftler später, an den zahlreichen Verzierungen. Schall wird von glatten Oberflächen zurückgeworfen und verstärkt, aber in der Rosslyn Chapel ist quasi jede Fläche ein Relief – so ähnlich wie ein mit Eierkartons gepolsterter Bandprobenraum. Deshalb ist es hier so viel friedlicher als draußen.

Die Krypta der Rosslyn Chapel

Mal sehen, wie friedlich die Krypta ist – der Ort, an dem angeblich allerhand Schätze spiritueller und materieller Natur versteckt sein sollen. Am Ende einer kurzen Treppe komme ich in einen kleinen Raum. Während der Bauphase wurde er von den Steinmetzen als Werkstatt und Zeichenraum benutzt. In den weichen Sandstein sind verschiedene Symbole gekratzt, Entwürfe sozusagen.

Der Eingang zur richtigen Krypta ist versiegelt – das hat Spekulationen darüber angeheizt, dahinter läge ein viel größeres, unterirdisches Gewölbe. Und in dem sollen sich, je nach Geschichte, die echten schottischen Kronjuwelen, der Schatz der Tempelritter, der mumifizierte Kopf von Jesus oder eben der Heilige Gral befinden.

In den 90er-Jahren gab es sogar eine Bohrung mit Endoskopkamera. Allerdings ergebnislos, da rieselnder Sand und Geröll keine klaren Bilder ermöglichten. Weitere Bohrungen sind nicht mehr erlaubt, sie könnten das Fundament gefährden. Klar ist bis heute nur: Hier liegen mehrere Generationen Sinclairs begraben.

Sie haben ihre Ruhe sicher verdient, denke ich, während ich die steinernen Stufen wieder hochsteige – und fast über eine Katze stolpere. Kapellenkater William marschiert zum Altar, setzt sich auf den roten Teppich und leckt sich seelenruhig die weißen Pfötchen.

Legenden und Mythen beeindrucken ihn ebenso wenig wie die sakrale Atmosphäre. Und was ist nun der wahre Schatz der Rosslyn Chapel – Gral? Kronjuwelen? Geheimnis der Tempelritter? Die Antwort kommt von unserem Tourguide: „Sie haben ihn in der Minute gefunden, als Sie dieses einzigartige und wunderschöne Bauwerk betreten haben.“ Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, weiß ich: Sie hat recht.


Weitere Arbeitsproben von Jessica Wagener gibt’s hier im Portfolio auf Torial.


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