Ayrshire liegt quasi vor meiner Haustür. Trotzdem habe ich es mir bisher noch nicht angeschaut. Das habe ich endlich nachgeholt – und es nicht bereut.

Wer die Augen schließt und „Schottland“ denkt, sieht wahrscheinlich ausgefranste Bergkämme, dramatisch geschwungene Schluchten und sprudelnde Bäche inmitten wuchernden Heidekrauts. Vermutlich Wind, der graue Wolken schubst. Vielleicht ein bisschen aufgewühltes Meer.

Was vor dem geistigen Auge eher nicht auftaucht, zumindest nicht sofort: flaches Land, grüne Wiesen, Felder, Windfarmen, bunte Blumen, zauberhafte Strände, Silberwasser, blauer Himmel.

Doch das ist Ayrshire im Sommer. Es liegt an Schottlands unterer Westküste, ein Stück südwestlich von Glasgow. Bekannt ist die Region vor allem für Landwirtschaft: Kartoffeln, Rüben, Beeren, Schafe und Kühe. Aber auch für ein paar versprengte Schlösser und Burgen, hie und da Golfplätze. Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon kommt aus Ayrshire; Schottlands Nationaldichter Robert Burns wurde 1759 ebenfalls hier geboren.

Außerdem befindet sich in Ayrshire der Flughafen Prestwick. Der war bis 1966 Stützpunkt amerikanischer Streitkräfte und offenbar der einzige Ort in Großbritannien, den Elvis je betreten hat – und zwar auf dem Rückweg aus Deutschland. Hier sind jedenfalls ein paar Fotos von Elvis Prestwick. (Entschuldigung.)

Wenn man die Insel Arran großzügig außen vorlässt, ist diese Tagestour mein erster Ausflug nach Ayrshire. Bevor die Uni wieder losgeht und ich wieder für sieben bis acht Monate am Schreibtisch festgetackert bin, muss ich noch ein bisschen raus. Meine Wahlheimat Schottland erkunden und so.

Nur ist Schottland ohne Auto nicht immer ganz so einfach zu erleben. Deshalb liebe ich Tagestouren in diesen kleinen Mini-Vans. Buchen, einsteigen, rumfahren, fertig!

Der erste Stop ist die Whitelee Windfarm in Ayrshire – der größte Festland-Windpark in ganz Großbritannien. Inmitten einer der schlimmsten Hitzewellen mit fast 35 Grad in Schottland eine zeitgemäße Sehenswürdigkeit. Als unser kiltbekleideter Tourguide Jeff auf der Fahrt dahin sagt „Wir haben soeben unser letztes Kohlekraftwerk abgeschaltet“, brechen die mitreisenden amerikanischen Boomer spontan in Applaus aus. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.

Ich spare mir den Gruppen-Spaziergang zur Turbine, setze mich stattdessen allein auf die Terrasse des Informationszentrums, bewundere Wildblumen und esse ein KitKat mit Minzgeschmack. Ich weiß eben, wie man lebt!

Culzean Castle

Dann geht’s weiter zum Culzean Castle – ein Meisterwerk architektonischen Pomps des späten 18. Jahrhunderts [hier irgendwas mit Neogotik, Romantik und zu viel Geld einfügen]. Es steht direkt am Meer mit spektakulärem Blick Richtung Arran. Entworfen hat’s Robert Adam für den 10. Earl of Cassilis.

Culzean Castle in Ayrshire in Schottland

Auf gut 2,5 Quadratkilometern Fläche gibt’s hier – neben dem prunkvollen Schloss, versteht sich – Ställe, Gaswerk, Orangerie, Garten, Schwanensee, Pagode, Wald, Strand, Abenteuerspielplatz, Eiskeller, Waffenlager, Bootshaus, nachgebaute Ruine oder Folly, wie man hier sagt. Was der Adel halt so braucht.

Mich zieht’s direkt zum mauerumrandeten Garten. Und der ist dann so schön, dass mir vor Staunen der Mund offen steht. Aber nur kurz. Es ist Sommer, die Fliegen und so.

Wildblumen im Garten von Culzean Castle in Ayrshire

Außer mir ist kaum jemand hier. Gemächlich schlendere ich die Kiespfade entlang und bewundere und beneide all die Leute, die sich jeden Tag um die Pflanzen hier kümmern. Es gibt Obstbäume, Palmen, Rosen, Beeren, Wiesenblumen… Ich würde zu gern einen von den errötenden Äpfeln klauen, aber ich trau mich nicht. Schade, dass grad nirgends eine überzeugende Schlange vom Ast baumelt.

Überraschung im Schloss

Weil drei Stunden in so einer Anlage flott verfliegen, mache ich mich auf zur Hauptattraktion: dem Schloss. Sieben Geister sollen hier im Culzean Castle spuken. Zu meiner ausgesprochenen Enttäuschung treffe ich keinen davon. Nicht mal im Spiegel des vor Spuk-Aktivität strotzenden State Bedrooms. Allerdings beleidige ich auch kein Gespenst durch unangebrachte Tapetenkritik oder Ähnliches.

Jessica im Spiegel im State Bedroom von Culzean Castle im schottischen Ayrshire

Wen ich allerdings unerwarteterweise treffe: meine Kommilitonin Hanna. Wir haben 2019 zusammen den Vorbereitungskurs an der Uni Glasgow gemacht und im ersten Jahr in den Geschichtsvorlesungen immer nebeneinander gesessen. Dann kam die Pandemie und na ja, seitdem haben wir uns nicht mehr live gesehen.

Während ich also milde verwirrt den Eingang suche, höre ich plötzlich eine Stimme von links: „Jessica?“ Große Wiedersehensfreude, Umarmungen, Schnack und Plausch! Hanna jobbt nämlich seit einiger Zeit hier am Empfang des Schlosses. Wir tauschen uns aus und erzählen uns, was so los war in den vergangenen zweieinhalb Jahren: Uni ist anstrengend, die Welt brennt; ich habe einen Schottland-Guide produziert und Hanna ein Baby.

Außerdem ist das hier grad die Woche, in der die Kurszuteilungen für das kommende Semester bekannt gegeben werden. Und niemand weiß, was der Algorithmus ausspuckt.

 

Weil andere Touris berechtigterweise Hannas Aufmerksamkeit fordern, mache ich mich schließlich auf den Rundgang durchs Schloss. In der Galerie des ovalen Treppenhauses weist mich eine andere Schloss-Angestellte darauf hin, dass die Fußspitze auf dem XXL-Gemälde von Margaret Erskine of Dun sich immer in Richtung des Betrachtenden richtet. Faszinierend.

Culzean mit seinen Reliefs, Damast-Tapeten und den Durchgangszimmern erinnert mich entfernt an Sanssouci. Nur viel größer. Und hie und da im Laufe der Zeit immer mal wieder modernisiert. Zum Beispiel befindet sich in Lady Ailsa’s einstigem Ankleidezimmer eine holzverkleidete Badewanne.

Holzverkleidete Badewanne im Ankleidezimmer von Culzean Castle in Ayrshire in Schottland

Mein Lieblingsort ist aber, wie bisher in jedem Anwesen, die Küche mit all den Kupfertöpfen und Feuerstellen. Very Downton Abbey. Neben dem Eingang zur Küche von Culzean befindet sich eine Wand mit den Namen der vielen Angestellten, die sonst verschwinden im Laufe der Zeit. Vorbildlich.

Als ich mich am Ende meines Rundgangs von Hanna verabschieden will, kommt sie mir aufgeregt entgegen. Die Zuteilungen sind raus! Ich logge mich umständlich per Handy ein. Der Algorithmus hat uns beiden dasselbe Special Subject beschert: Scottish Radicalism. Das bedeutet, dass Hanna und ich im kommenden Jahr ziemlich viel Zeit miteinander verbringen werden. Ein kleines Highlight an einem eh schon schönen Tag. Und was für ein Zufall, dass ich ausgerechnet heute ausgerechnet hier bin.

Romantische Ruine und Rabbie Burns

Die nächste und vorletzte Station ist die zerfranste Ruine von Dunure Castle an der Küste von Ayrshire. Von hier ist der Ausblick weit und sommerblau. Kinder klettern quietschend in der Burg herum und ihre Eltern ermuntern sie zum runterspringen. Interessanter Erziehungsansatz – quasi reverse Helicopter.

Blick auf Dunure Village an der schottischen Küste in Ayrshire von der Burgruine aus gesehen

In Dunure wurde auch ein bisschen was für Outlander gedreht – die Szene in Staffel 3, in der Ian den Schatz von der Insel holen soll und von Piraten gekidnappt wird. Dunure steht zwar nicht auf einer Insel, aber mit ein bisschen CGI ist das heutzutage alles kein Problem.

Den Abschluss bildet Alloway, der Geburtsort von Robert „Rabbie“ Burns. Der bekannteste Dichter Schottlands, dem im Januar ein ganzer Tag gewidmet ist. Burns wird auch „Ploughman’s Poet“ genannt, weil sein Vater hier in Ayrshire ein Bauer war. Allerdings kein besonders erfolgreicher. Das reetgedeckte Cottage ist klein, eng und unspektakulär. Aber, das muss ich dazu sagen, man hat sich große Mühe gegeben, das Beste draus zu machen.

Zwei Holzstühle und ein Spinnrad vor dem Kamin im Cottage in Alloway in Ayrshire, in dem der Dichter Robert Burns geboren wurde

Während der Rest der Entourage sich dann Richtung Museum aufmacht, zieht es mich – morbide wie eh und je – zum alten Friedhof und der berüchtigten Kirche von Alloway, dem Setting von Burns’ Erzählgedicht Tam O’Shanter. Darin geht’s, grob zusammengefasst, um einen versoffenen Farmer, der bezecht durch eine Sturmnacht reitet und dabei einen Hexensabbat in der Kirchenruine crasht.

Kleiner Auszug gefällig?

Kirk-Alloway was drawing nigh,
Whare ghaists and houlets nightly cry.“

Hier der Link zum ganzen Gedicht.

In der warmen Spätnachmittagssonne über Ayrshire heulen in der Ruine aber weder Geister, noch sind ein Dudelsack spielender Teufel, tanzende Hexen oder versoffene Bauern zu entdecken. Nicht mal Eichhörnchen. Nur Ruhe, Frieden, schiefe Grabsteine und ein paar Amseln. Herrlich.

Kirk Alloway - die Ruine der Kirche in Ayrshire, in der Robert Burns' Gedicht Tam O'Shanter spielt

Ab nach Ayrshire!

Wer also mal eine andere Seite Schottlands sehen will, ist mit Ayrshire hervorragend beraten. Von Glasgow aus ist die Region schnell und gut zu erreichen und auch nicht zu überlaufen. Und es gibt genug zu sehen und zu entdecken.

Windparks, Burgen und Blumenwiesen entlang einer herrliche Küste… Ayrshire ist gut für die Seele, denke ich so auf der Rückfahrt nach Glasgow. Und Schottland ist eben nicht nur Kilts, Highlands und Islands. Sondern auch mal Rüben und Ruinen.


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PS: Ich bin freie Autorin und Studentin und das Betreiben dieses Blögchens kostet – genau wie alles andere im Leben – ein wenig Geld.Wer also mag, kann hier via BuyMeACoffee ein bisschen Trink-, äh, Schreibgeld dalassen. Dankeschön! <3

 


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