Der Tod von Queen Elizabeth II war ein historisches Ereignis. Ich habe es mir in Edinburgh aus der Nähe angeschaut. Und bin der Frage nachgegangen, was ihr Ableben für Schottland bedeutet – oder auch nicht.

Ein Mann mit weißem Federhut und roter Uniformjacke erklimmt in Begleitung ähnlich kostümierter Würdenträger gemessen das Marktkreuz auf Edinburghs Royal Mile. Dr. Joseph Morrow – der aktuelle Lord Lyon King of Arms – ist im Begriff, offiziell den Tod der Queen und die Thronfolge von Charles III auszurufen.

Diese Proklamation ist die förmliche Verkündung, dass ein*e Monarch*in gestorben und die Nachfolge geregelt ist und geht zurück auf Zeiten ohne WhatsApp und Telefon – und vor allem ohne parlamentarische Demokratie. Da konnte ein*e tote*r König*in samt ungeklärter Nachfolge für Unruhe sorgen. Und musste daher zeitnah an zentraler Stelle verkündet werden.

Wie das so ist mit Traditionen: Sinn und Zweck mögen im Laufe der Zeit verblassen. Das Prozedere bleibt.

So wirkt auch das Spektakel auf Edinburghs Mercat Cross zeitverwirrt. Kulisse weitgehend mittelalterlich, Ritual aus der frühen Neuzeit, Kostüme aus dem 19. Jahrhundert, Smartphones aus 2022.

Als plötzlich Trompeter zu einer schmetternden Fanfare ansetzen, kann ich das Kichern nicht unterdrücken – so pythonesk ist die theatralische Inszenierung in diesem Augenblick. Ein Teil von mir erwartet herbeigaloppierende Ritter der Kokosnuss.

Es ist 2022, es ist das echte Leben, die meinen das Ernst.

In anderen Städten Großbritanniens finden ähnliche Kundgebungen statt. Alle mit einer exorbitanten Prise Pomp.

Ohnehin ist Popanz das Motto der Stunde. Federbüsche wurden geflufft, Zeremonienstäbe poliert, Uniformen gebügelt. Glanz und Gloria – aber gediegen, weil Staatstrauer. Vor der St. Giles Kathedrale sehe ich zum Beispiel einen ernstgesichtigen Mann mit derart vielen Orden an der Jacke, dass er gemäß physikalischer Prinzipien eigentlich vornüber kippen müsste.

Etliche der um den Tod der Queen herum aufgeführten Traditionen gehen übrigens – genauso wie die Dynastie Windsor selbst – nicht bis in die Zeit von William the Conqueror 1066 zurück. Sondern bis zur Zeit von Queen Victoria Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts, der vor Elizabeth II am längsten amtierenden Monarchin.

Die Rolle der Queen als Symbol

Elizabeth II verkörperte eine Ikonographie, in der Popkultur und Imperialismus bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen; gleichzeitig war sie als Symbol für Großbritannien überall erkennbar – selbst als Scherenschnitt. Charles III hingegen ist bloß ein Typ im Anzug, der gelegentlich mit seinem Gemüse spricht.

„Die Königin war eine Art lebendiger Statue, ein Symbol der Vergangenheit, das stoisch und unbeweglich war und angeblich zu eben jener Öffentlichkeit gehörte, von der sie immer sicher abgegrenzt war“, meint der irische Autor Seamas O’Reilly. Pseudo-Stabilität und Pseudo-Nähe in instabilen und isolierten Zeiten.

Tod der Queen: Foto der jungen Elizabeth auf einer Zeitung mit einer Schottlandflagge daneben

Die wichtigste Rolle der Königin bestand in Wahrheit darin, den Verlust des Empires abzufedern, so schreibt Nesrine Malik im Guardian: „Im Reichtum, im Pomp und in der Pracht der königlichen Familie blieb ein Rest dieses für die britische Identität so wichtigen Status erhalten. Das Juwel blieb in ihrer Krone, wenn auch nicht im Empire.“

Oder, wie Laurie Penny es formuliert: „Die Queen war so, wie Großbritannien sich selbst sehen wollte.“

Dass das Vereinigte Königreich diesem verzerrten Selbstbild schon seit geraumer Zeit nicht mehr entspricht – falls überhaupt je, für eine Perspektivkorrektur muss man nur mal die kolonialisierten Völker des britischen Empires fragen – geschenkt. „Ich kann mich nicht erinnern, wann sich dieses Land das letzte Mal nicht ausgeblutet angefühlt hat“, schreibt Laurie Penny.

Die brauchtumsbasierte Beschwörung Britannias mit Tusch und Fanfare ist – angesichts von Regierungs- und Teuerungskrise, nach Brexit und Covid – eine vergebliche Séance.

Warum sind Leute heute hier in Edinburgh?

Auch Daniel – Ingenieur aus Leeds, der sich auf der Royal Mile neben mir ans metallene Absperrungsgitter lehnt, muss wegen der Trompeten grinsen. „Das ist wirklich schräg. Keine Ahnung, warum ich hier bin. Aber verpassen wollte ich es auch nicht. Und hey, es ist Sonntag – außer Netflix hatte ich nichts vor.“

Genau so geht es den meisten, mit denen ich hier in Edinburgh ins Gespräch komme und die hier nach der Proklamation des neuen Königs auf die Ankunft der toten Königin warten, die heute ihre letzte Reise durch Schottland macht. Im Sarg vom Schloss in Balmoral bis in die schottische Hauptstadt und dann später weiter nach London.

Anders als (britische) Medien es darstellen, kommen Leute „aus vielen verschiedenen Gründen, von denen nicht alle mit Loyalität gegenüber der Monarchie zu tun haben“, wie der Soziopsychologe Stephen Reicher schreibt. Nicht alle trauern, nicht alle machen ihre letzte Aufwartung – viele wollen einfach ein historisches Ereignis erleben.

„Ich bin hier, weil ich dabei gewesen sein will“, sagt die brasilianische Ärztin aus Minas Gerais zu mir, „bei Charles’ Tod wird das nicht so groß.“

Und ihre Freundin fügt hinzu: „Irgendwann steht auf einer Seite im Geschichtsbuch: ‚Elizabeth II ist 2022 gestorben.‘ Und dann kann ich sagen: Woah, ich war dabei!“

Das Verhältnis der Königin zu Schottland

Über das Verhältnis von Elizabeth II zu Schottland wurde in den vergangenen Wochen viel geschrieben. „Monarchin mit aufrichtiger Liebe zu Schottland“, nannte sie die BBC. Die Mutter der Queen, gebürtig Elizabeth Bowes-Lyon aka Queen Mum, stammte aus einem schottischen Adelsgeschlecht. Elizabeth selbst hat alljährlich Urlaub in Balmoral gemacht, war reiten, jagen und wandern. Was man halt so tut als reiche Person in Schottland. Sie saß bei den Braemar Highland Games ganz vorn, hat Zuglinien und Brücken eröffnet oder ist auch mal in eine Mine in Fife geklettert. Sie hat so viel von diesem Land gesehen wie sonst wohl niemand. Aber hat sie es auch verstanden?

Während ihres silbernen Thronjubiläums 1977 sagte Elizabeth II, sie könne die Bestrebungen nach schottischer Selbstverwaltung durchaus „sehr gut nachvollziehen“. Aber sie fügte hinzu: „Ich kann nicht außer Acht lassen, dass ich zur Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gekrönt wurde.“ Ein subtiles Pro-Union-Statement?

Einige behaupten gar, dass das Ableben der Queen ausgerechnet hier in Balmoral als letztes Zeichen für ihre Unterstützung der Union – des Vereinigten Königreiches aus den vier Nationen England, Nordirland, Schottland und Wales – interpretiert werden könnte. Immerhin ist Schottland, für die meisten Brit*innen bloß ein Urlaubsort, dadurch kurzzeitig auf den (inter)nationalen Radar gerückt. Nachweisbar ist diese Interpretation natürlich nicht, nachvollziehbar schon. Denn die Queen war, wie gesagt, vor allem eine Projektionsfläche.

Streng genommen hätte sie in Schottland übrigens gar nicht Elizabeth II heißen dürfen. Schottland hatte nämlich nie eine Elizabeth I. Die Union of Crowns fand nach erst dem Tod von Elizabeth I statt.

Deshalb wurden in Schottland Anfang der 1950er sogar Briefkästen mit dem „EIIR“-Logo der damals neuen Königin angezündet, mit Teer und Farbe übergossen oder auch mit Hämmern bearbeitet – der sogenannte Pillar Box War. Die Wahl ihres königlichen Namens mit der II dahinter war für viele eine Erinnerung daran, dass man Schottland nicht zuhört und die Union nicht respektiert. Deswegen wurden nach 1953 in Schottland neue Briefkästen nur mit dem Bild der schottischen Krone aufgestellt.

Gleichzeitig, das weiß ich aus eigener Erfahrung, sind Schott*innen offen für alle, die Schottland lieben. Und dass die Queen ein Herz für Schottland hatte, steht außer Frage.

Als sie 2021 sie zum erstmals ohne Prinz Philip, den verstorbenen Duke of Edinburgh, an der Eröffnungszeremonie des schottischen Parlaments teilnahm, sagte sie: „Ich habe schon früher über meine tiefe und dauerhafte Zuneigung zu diesem wunderbaren Land gesprochen und über die vielen glücklichen Erinnerungen, die Prinz Philip und ich hier erlebt haben. Es wird oft gesagt, dass es die Menschen sind, die einen Ort ausmachen, und es gibt nur wenige Orte, auf die das mehr zutrifft als auf Schottland.“

Ich stimme ihr aus tiefster Seele zu. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte sie hier ein bisschen mehr Mensch und ein bisschen weniger Monarchin sein.

Was bedeutet der Tod der Queen für Schottland und Unabhängigkeit?

Begeisterung für die Monarchie als Institution jedoch hält sich in Schottland in Grenzen. Laut einer Umfrage im Mai waren nur 45 Prozent der Befragten bekennende Royalist*innen. Vor allem junge Leute sehen wenig Sinn in der ganzen Sache.

Im Grunde gibt es zwei Lager:

Einerseits sind glühende Fans der Queen meist überzeugte Anhänger*innen der Union – und damit ohnehin gegen schottische Unabhängigkeit. Die Union ist Teil ihrer britischen Identität. Sie würden sie niemals freiwillig aufgeben.

Andererseits sind Schott*innen, die für schottische Unabhängigkeit und damit gegen die Union sind, selten innige Freund*innen der Monarchie. Sondern für Selbstbestimmung.

Darum ist es unwahrscheinlich, dass Fans der Queen nach ihrem Tod jetzt plötzlich pro Indy sind. Oder sich Indy-Anhänger aufgrund ihrer Trauer plötzlich dagegen entscheiden würden.

Also macht der Tod der Queen im Rahmen der schottischen Unabhängigkeits-Bestrebungen keinen wesentlichen Unterschied.

Schon möglich, dass es ein paar Unentschlossene gibt, die ungern auf die knuffige Queen aus dem Paddington-Spot verzichtet hätten und nun eher geneigt sind zu sagen: „Na, wenn sie jetzt nicht mehr da ist, dann…“

Aber das, so meine Einschätzung, dürfte kein signifikanter Teil sein. Zumal Charles III im Unabhängigkeitsfall ohnehin Schottlands Staatsoberhaupt bleiben soll. So ähnlich wie in Kanada.

 

Die beiden Dinge – Monarchie und Unabhängigkeit – funktionieren nämlich getrennt. Schon in der ersten Indy-Kampagne 2014 spielte die Monarchie kaum eine Rolle.

Das ist auch logisch. Mit der Union of Crowns in 1603 ist die Monarchie explizit binational. Was das heißt? Schottische Unabhängigkeit und britische Monarchie sind kein Widerspruch. Elizabeth II war nicht Königin von Schottland und dem Rest der Union, sondern sie war Königin sowohl von Schottland, als auch vom Rest der Union.

Kurz gesagt: Die Tatsache, dass Schott*innen öffentlich um die Queen trauern, oder ihr Leben im Dienst der Krone würdigen, oder ein Stück Geschichte live miterleben wollten, bedeutet nicht, dass sie im gleichen Maße die Union unterstützen und nicht (mehr) unabhängig sein wollen.

Was Schott*innen sagen

Die Person der Queen steht in der öffentlichen Wahrnehmung ein Stück weit außerhalb der Institution. Das hängt mit ihrer Symbolhaftigkeit bei gleichzeitiger inhaltlicher Ungreifbarkeit zusammen.

So sagen selbst Republikaner*innen wie mein Freund Grant: „Für mich repräsentiert sie vieles von dem, was ich an dieser Welt verabscheue. Ich werde ihr Leben nicht feiern – aber ich werde auch nicht den Tod einer alten Dame feiern. Das wäre nicht richtig. Sie war eine kleine, nette, alte Dame.“

Eine Freundin meint unterdessen, es gehe bei der Trauer um die Queen um etwas Tieferes. Nämlich um „die Tatsache, dass ihr Tod für das Vergehen der Zeit steht und für eine Ära, die in unserer Geschichte so bedeutend war.“

Mein Nachbar konstatiert hingegen nur nüchtern: „Ja, es ist traurig, dass eine alte Dame gestorben ist. Aber so ging es Hunderttausende von alten Damen während der Covid-Pandemie. Und für die hat sich niemand stundenlang an den Straßenrand gestellt.“

Das ist die Frage, die sich im Zusammenhang von Monarchie, Unabhängigkeit und Unionism stellt: Ist die schädliche Politik der Tories – mit wachsender Inflation und sozialer Ungleichheit – den königlichen Pomp wert?

Farewell

Es ist auffällig leise in Edinburgh. Normalerweise ist die Royal Mile erfüllt von Dudelsackmusik. Es ist nahezu unmöglich, im Stadtkern dem Rattern der Rollkoffer und dem getragenen Quäken der Pipes zu entkommen.

Ich stehe auf dem Kantstein einer Parkbucht neben der Campbell’s Close. Der Himmel trägt grau, passend zum mittelalterlichen Gemäuer entlang der Royal Mile, die von der Burg oben zum Holyrood Palast unten führt und 1,8 Kilometer lang ist. Die Luft ist schwer, sie riecht nach Regen. Die Menschenmenge klingt gedämpfter. Eine einzelne Windböe kommt auf und bauscht durch die Reihen. Plötzlich gehen die Handys hoch, nacheinander, in einer Welle.

Dann kommt die Queen.

Der schwarze Mercedes mit dem Glasdach gibt den Blick auf den in die Royal Standard Flagge eingehüllten Sarg frei. Er gleitet nahezu geräuschlos an uns vorbei. Nicht im Schritttempo, sondern ziemlich zügig. Aber die offizielle Prozession durch Edinburg von Holyrood zur Kathedrale St. Giles ist auch erst morgen.

Diejenigen, die kein Handy hochhalten oder genug gefilmt haben, klatschen. Der Applaus von hunderten von Menschen synchronisiert sich. Egal, ob Royalist*innen oder nicht; ob schottisch, britisch, englisch, spanisch, italienisch, deutsch, französisch. Einen Augenblick lang schwappt so was wie Verbundenheit durch die Menge.

Dann ist sie weg. Für immer.

In dem Moment beginnt es zu regnen. Die Menge löst sich auf, strömt von der höher gelegenen Royal Mile durch die seitlichen Gassen hinunter Richtung Bahnhof. Das war also das historische Ereignis.

Und woah, ich war dabei.

 


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