Jahrelang kämpften sie um ihre Ausreise. Im April 1989 durften sie die DDR verlassen und ließen ihr Leben hinter sich. Warum eine Familie den Tag der deutschen Einheit nicht am 3. Oktober feiert.
VON JESSICA WAGENER
[Dieser Artikel erschien zuerst auf der Website der WELT]
Er steht am Fenster und schleudert seine letzten DDR-Münzen aus dem Zug. „Ich wollte den Rotz einfach loswerden“, sagt Laras Vater* heute. Lara ist damals acht und weiß nicht, dass es so etwas wie Devisenschmuggel überhaupt gibt. Wohl aber, dass sie gerade ihr Zuhause hinter sich lassen. Sie kuschelt sich tiefer in den grünen Plüschbezug. Die Familie ist kurz vor der deutsch-deutschen Grenze – 1989, als es noch zwei Deutschlands gibt. Und nicht mehr lange geben wird. Doch das ahnen sie nicht.
Drei Tage vorher. Als Laras Mutter am frühen Abend des 25. April 1989 mit Tochter und Sohn vom Besuch bei der Oma zurück- und in der Bautzener Wohnung ankommt, sitzt ihr Mann mit dem Nachbarn am Küchentisch – „voll wie 1000 Russen“. Es gibt Grund zu feiern. Der achte Ausreiseantrag der Familie wurde genehmigt; die Jahre in Angst und Ungewissheit sind endlich vorbei.
Ihnen bleiben 72 Stunden, um ihr gesamtes Leben aufzulösen.
Sogar ein Wartburg
Es ist nicht so, dass es der Familie schlecht ginge, sie haben – anders als andere Landsleute – keine wirtschaftliche Not. Als studierter Ingenieur gehört Günter zwar nicht zur angesehensten Klasse im Arbeiter- und Bauernstaat, aber mit Handwerkerjobs verdient er sich etwas dazu. Sogar einen Wartburg haben sie. Die Oma mütterlicherseits schickt Westpakete, viele davon kommen an.
„Ich hatte eine sehr schöne Kindheit, es fehlte uns an nichts“, erzählt Lara.
Doch da ist die Sehnsucht nach Freiheit. Das eingesperrt sein – unerträglich für Günter. „Mein Vater hat sich nie ins System gefügt. Der wusste immer, dass es da Draußen etwas Besseres gibt.“ Als Teenager schmuggelt er Stones-Platten aus der damaligen Tschechoslowakei in die DDR. Vor der verhassten ideologischen Indoktrination will er Sohn und Tochter schützen.
Sie dürfen nicht zu den Jungpionieren. „Ich kam in die erste Klasse und habe das nicht verstanden, ich fand die Uniform so toll. Aber für meinen Vater war klar: ‚So ziehe ich keine Kinder groß.’ Darum hat er die Ausreiseanträge gestellt.“
Die Stasi kommt am Morgen
Den ersten im Juli 1983. Günter beruft sich auf Familienzusammenführung. „Du konntest ja nicht sagen: ‚Ich will hier raus, weil ich den Staat so scheiße finde’“, sagt Lara. Der Bruder ihrer Mutter wohnt in der BRD, seit ihn der Westen 1983 nach drei Jahren Haft in Bautzen freigekauft hat. Er saß, weil er Westdeutschen seine Adresse aufgeschrieben hatte – Spionageverdacht. Grund für die Stasi, ihn morgens aus seiner Wohnung zu zerren.
Er spricht nie darüber.
Lara schaut zu, wie ihr Vater Kisten zimmert und anfängt, ihr Leben einzupacken: „Wir waren damals immer auf dem Sprung, in einem Zustand zwischen ‚Wir müssen es uns hier irgendwie schön machen’ und ‚Es kann jederzeit etwas passieren‘.“
Gleich der erste Antrag hat Folgen. Laras Mutter, Lehrerin, bekommt Arbeitsverbot: „Sie stand ja nicht mehr offiziell hinter dem Staat. Das war hart für sie“. Sie bewirbt sich auf mehrere Stellen, auch in einem Kindergarten, und hört: „So was wie Sie stellen wir hier maximal als Küchenkraft an.“
Fähnchen im Wind
Es ist der zehnte Hochzeitstag 1988 und einige vergebliche Ausreiseanträge später, als Laras Vater in frustriertem Übermut ein weißes Tüllbändchen um die Antenne seines Wartburgs bindet – ein inoffizielles Zeichen unter den DDR-Bürgern, die raus wollen – und mit seiner Frau nach Potsdam fährt. Kurz darauf besuchen ihn Stasibeamte im Büro und fordern ihn auf, das Fitzelchen in ihrem Beisein abzunehmen. Er tut es. Lara sagt: „Bei aller Ostalgie – und auch ich erinnere mich ans Idyllische – die DDR war ein menschenverachtender, totalitärer Überwachungsstaat. Leider verdrängen und verklären das einige Menschen heute“.
Am Dienstag, den 25. April, der alles verändernde Anruf. Günter ist auf der Arbeit, als er erfährt: Der Ausreiseantrag ist genehmigt. Fassungslos rennt er nach Hause und betrinkt sich mit seinem Nachbarn – an Schnaps und Glück.
Jetzt läuft die Zeit. Bis Freitag um 23:59 Uhr muss die Familie die Deutsche Demokratische Republik verlassen haben, danach wird ihr Visum ungültig. „Es gab Leute, die hatten alles schon in Sack und Tüten, und weil der Zug Verspätung hatte und sie zu spät am Grenzübergang waren, wurden sie wieder zurückgeschickt“, weiß Lara von ihrem Vater.
Unter Hochdruck wird alles verkauft oder verpackt, Rechnungen beglichen, Bestätigungen eingeholt, Abmeldungen vorgenommen. Und Schweigegelübde gebrochen. „Meine Mutter hat mir eingeschärft, kein Sterbenswörtchen darüber zu sagen. Es war verboten, die Ausreise an die große Glocke zu hängen. Aber ich hatte es meiner Schulfreundin verraten. Dann saß ich heulend auf unserem Küchentisch“, sagt Lara. „Sie hätten uns ja immer noch jederzeit einsperren können.“
Der Abschied
Freitagnachmittag ist schließlich nichts mehr übrig. Bloß ein paar Koffer und der Wartburg, in dem die Familie nach Dresden fährt. „Der Sohn von Freunden saß hinten neben mir und schenkte mir einen kleinen Schlumpf mit Herzchen auf der Brust. Den habe ich sogar noch“, sagt Lara. Am Bahnhof überlässt ihr Vater das Auto seinem Bruder. 20 Menschen nehmen von ihnen Abschied. Mit Sekt. Und Tränen. „Mein Vater sagt, sie dachten, sie sähen ihre Freunde und Familie nie, nie wieder. Das war’s jetzt.“
Und dann sitzen sie in diesem Zug. Er ist der einzige in den Westen. Die vierköpfige Familie auf dem Weg in ein ungewisses Leben. Begleitet von Angst. „Meine Eltern waren nicht sicher, ob wir es wirklich rechtzeitig über die Grenze schaffen. Und sie wussten auch nicht, wie die Grenzbeamten drauf sind.“
Die Anspannung ist so groß, dass Laras Vater auch neun Jahre später noch Albträume von an der Grenze gescheiterten Ausreisen haben wird. Jetzt jedoch wirft er sein letztes Ost-Geld aus dem Fenster. Dann schweigen sie.
Am 28. April 1989 um 23:45 Uhr rollt der Zug über die Grenze.
Neuanfang im Westen
In Düsseldorf warten Onkel und Oma am Bahnhof, wieder gibt es Sekt. Und Tränen. Lara erzählt: „Wir fuhren im Auto meines Onkels am Bahnhof vorbei und das erste, was ich las, war ausgerechnet M-C-D-o-n-a-l-d-s.“
Die Familie kommt erst bei ihren Verwandten unter, muss sich im Auffanglager für Sowjetzonenflüchtlinge melden, um Teil der BRD zu werden. Das neue Leben holpert. Laras Mutter darf noch immer nicht als Lehrerin arbeiten; ihre Qualifikation wird im Westen nicht anerkannt. Ihr Vater findet einen Job als Ingenieur. Er konstruiert Züge, sein Vehikel in die Freiheit. Doch der Stress ist enorm. „Meine Eltern haben sich viel gestritten in der ersten Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich jemals in der DDR so angeschrien haben.“
Auch Lara hat es nicht leicht, sie ist in der zweiten Grundschulklasse die Außenseiterin.
Im Herbst 1989, sie sind gerade in ihre eigene Wohnung gezogen, gehen Millionen Menschen in ihrer alten Heimat auf die Straße, stürmen die Grenze. Und dann fällt die Mauer, die sie so lange eingesperrt hatte. „Wir saßen abends alle zusammen vorm Fernseher.“ Sie können nicht fassen, was da passiert.
Laras Eltern schwanken zwischen unterschiedlichen Gefühlen. „Auf der einen Seite war mein Vater glücklich und erleichtert, dass es endlich vorbei ist“, sagt Lara. „Andererseits war es so, als hätte er seine ganze Kraft gesammelt, um eine Tür zu durchbrechen – und dann macht sie jemand für alle anderen einfach so auf.“
„Zum Glück sind wir nicht nur Mitläufer“
Für Laras Familie gibt es bis heute zwei Kategorien: Die Menschen, die ein Risiko auf sich genommen haben, um dem System zu entkommen, mit dem sie unzufrieden waren. „Die, die geflohen sind, ja noch viel, viel mehr als wir“, sagt Lara. Auf der anderen Seite diejenigen, die nichts gesagt oder getan haben. Das sei differenziert zu betrachten, findet sie: „Es muss sich nicht jeder auflehnen. Vor allem weil das System Mittel hatte, einem das Leben zur Hölle zu machen. Es gibt bestimmt bei vielen, die erst nach der Wende rübergegangen sind, berechtigte Gründe dafür. Es gibt aber auch viele, bei denen man das nicht sagen kann.“
Was das für Laras Familie bedeutet? Ein ganzes Stück Identifikation: „Zum Glück sind wir nicht nur Mitläufer.“
Deshalb feiern sie noch immer jedes Jahr den 29. April – den Tag, an dem sie in Düsseldorf ankamen – mit einem feudalen Essen zu viert. Obwohl Laras Eltern inzwischen seit fünf Jahren getrennt sind. „Egal. So was schweißt zusammen“, sagt sie.
Ja, ihre Geschichte hinterließ Spuren. „Man hat es immer schwerer, wenn man gegen den Strom schwimmt. Aber wenn es der richtige Weg ist, muss man dafür kämpfen. Das ist das, was unser Vater uns mitgegeben hat“, sagt Lara. „Und das war der richtige Weg. Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn mein Vater damals nicht die Ausreiseanträge gestellt hätte.“
*Die Familie will anonym bleiben, die Namen sind Autorin und der Redaktion bekannt.
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