Der Sommerwind weht über grüne Hügel und kleine Buchten am türkisblauen Meer. Cornwall, das ist die romantische Landschaft von Rosamunde Pilcher. Cornwall ist aber auch der Teil Großbritanniens, in dem 56,5 Prozent der Menschen für die Trennung von Europa gestimmt haben.
VON JESSICA WAGENER
[Diese Reportage erschien im Juli 2018 zuerst in der BILD am SONNTAG]
Wo ich auch hinkomme – statt wie früher über Fußball, Königshaus und Wetter reden die Briten überall nur noch über eins: den Brexit.
Am Strand von St. Ives genießen Emma Prince und Rasmus Broener die kitschig-schöne Aussicht. Wenn das mit dem Reisen bald schwieriger wird, flüstert Emma mir unter dem Geschrei der Möwen zu, muss ihr Freund sie vielleicht endlich heiraten. Der Däne und die Britin haben sich beim Rucksackreisen kennengelernt, führen seit sechseinhalb Jahren eine Fernbeziehung und machen Pärchen-Urlaub.
„Ich liebe die wunderschöne Landschaft hier“, sagt Rasmus. „Es gibt so eine große Vielfalt in Großbritannien, so einen multikulturellen Lebensstil – ich glaube nicht, dass sich das durch den Brexit ändert.“ Emma nickt und sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es echt passiert.“
Noch ist alles offen, die Verhandlungen sind festgefahren. London will Zuwanderung aus Europa stark begrenzen, aber weiterhin ohne Hindernisse handeln; Brüssel hingegen hat kein Interesse an einer „Rosinenpickerei“ der Briten. Bis Herbst müssen beide Seiten eine Vereinbarung auf den Weg bringen, damit ein Deal bis zum Austritt am 29. März 2019 von allen EU-Ländern abgenickt werden kann. Ein harter Brexit, also ein Ausstieg Großbritanniens ohne jede Regelung, wird wahrscheinlicher. Was das im Einzelnen bedeutet, kann keiner sagen.
Liebe mit Visum? Nein, danke
Heiraten nur wegen des EU-Austritts käme für Kerrin Neumann nicht infrage. Die Hamburgerin ist vor eineinhalb Jahren nach Cornwall gezogen, der Liebe wegen. Jetzt fragt sie sich, wie der Brexit die Beziehung zu ihrem Freund verändern wird: „Ich will nicht bei jedem Besuch ein Visum beantragen müssen und keine Liebe auf Distanz. Hoffentlich kann ich bleiben. Ich liebe die wilde Natur und die schönen Strände!“
Kerrin fühlt sich wohl und willkommen hier. In einer typisch englischen, plüschigen Teestube in Truro plaudern wir bei Scones und Darjeeling über ihren Job, der ihr großen Spaß macht. Sie arbeitet als Teilzeit-Verkäuferin im „Great Cornish Food Store“ und ist gerade befördert worden.
Den Spezialitäten-Markt hat Unternehmerin Ruth Huxley vor zwei Jahren gegründet. Und das Geschäft läuft. Ruth verkauft ausschließlich frische Produkte und Spezialitäten aus Cornwall: Fisch und Fleisch, Gemüse und Gebäck. Sie kennt sich aus in der regionalen Landwirtschaft. Die ist hier sogar noch wichtiger als der Tourismus, und die Bauern gehören zu den Ersten, die den Brexit spüren. „Die Erdbeerbauern finden keine Pflücker mehr“, sagt Ruth. „Die ganze Nahrungsmittelindustrie hängt an Migranten. Sie leisten wichtige Arbeit.“ Warum dann in Cornwall so viele gegen die EU gestimmt haben? „Wegen der vielen komplizierten Regulierungen“, vermutet Ruth.
Die EU hat auch viel gegeben
Dabei hat ausgerechnet Cornwall besonders von Subventionen aus Brüssel profitiert. Und auch die Regulierungen waren nicht sinnlos. Ruths Mann Dave wiegt an der Fischtheke gerade einen glänzenden Kabeljau ab. Sie erklärt: „Der war zum Beispiel schon überfischt. Durch die EU-Fangbegrenzungen konnte sich der Bestand aber wieder erholen.“
Fast so selten wie Kabeljau ist auch gutes Personal, sagt die Unternehmerin und rührt in ihrem blauweiß geringelten Becher: „Es wird schwerer, fähige Leute zu finden. Und es geht nicht nur mir so.“ Dafür schätzt Ruth ihre deutsche Mitarbeiterin umso mehr: „Ich werde mich für sie einsetzen, wenn es ernst wird.“ Die beiden verstehen sich gut, Ruth ist eine engagierte, fürsorgliche Chefin. Und genau wie Kerrin liebt sie Cornwall. „Die Leute, die Landschaft, die Art, wie Menschen zusammenhalten. Das ist schon sehr bemerkenswert“, sagt Ruth und klingt ziemlich stolz.
Vielfalt vs. Nationalismus
Wir fahren weiter nach London. Durch die Brick Lane zieht Curry-Duft. Hier reihen sich indische Restaurants aneinander. Der Kellner Chonny Miah (42) serviert uns Tandoori-Huhn und erklärt: „Das ist natürlich kein original indisches Essen, sondern für den europäischen Geschmack gemacht!“ Er ist seit seinem sechsten Lebensjahr britischer Staatsbürger und glücklich hier. „Großbritannien ist gerade wegen der Vielfalt so großartig“, meint Chonny. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, wir haben Redefreiheit.“ Dann fügt er wehmütig hinzu: „Ich wünschte, alles würde so bleiben, wie es ist.“
Genau das wollen Alan Putman und Geraldine Howard nicht. Beide haben gegen Europa gestimmt. Während der Fußball-WM haben sie zusammen mit Nachbarn ihren sozialen Wohnungsbau in Süd-London über und über mit weißroten England-Flaggen behängt. „Das Turnier hat unser Land kurzzeitig wieder vereint“, sagt Geraldine. „Aber der Brexit zieht sich ewig hin. Lasst es uns einfach durchziehen!“ Alan stimmt ihr zu: „Lasst es uns hinter uns bringen!“ Seine Pitbullterrier Misty und Governor springen hinter der Flagge auf und ab, während er zum Abschied winkt.
Barbara Drozdowicz erzählt wenig später schwierige Geschichten über das Zusammenleben von Briten und Ausländern: „Vor allem Osteuropäer verdienen viel weniger als Briten und werden oft ausgebeutet.“ Von dem vier Quadratmeter kleinen Büro in West London aus leitet Barbara das East European Ressource Centre. Osteuropäer haben laut Barbara regelmäßig mit Diskriminierung zu kämpfen. „Aber viele Menschen aus Osteuropa haben dieses Land zu ihrem Zuhause gemacht“, sagt sie. „Sie sind wahnsinnig unternehmerisch und gründen begeistert eigene Geschäfte. Viele von ihnen werden wohl in andere EU-Länder gehen.“
Die Schotten und der Brexit
Von der bunten Hauptstadt rattern wir mit dem Zug 647 Kilometer Richtung Norden, ins raue, malerische Schottland. Zu unergründlichen Seen, tiefen Tälern und schroffen Bergen, in das Land von „Braveheart“ und „Highlander“.
Der nördlichste Teil Großbritanniens hat einen Sonderstatus: 2014 durften die Schotten in einem historischen Referendum über ihre Unabhängigkeit abstimmen. Eine knappe Mehrheit wollte Teil Großbritanniens bleiben. Auch, um weiterhin in der EU zu sein. Durch den Brexit platzte diese Hoffnung. Fühlen sich die Schotten betrogen?
Diese Frage stelle ich auf der Royal Mile in Edinburgh, am Fuße der mächtigen Burg, einem Dudelsackspieler. „Jeder wusste damals, dass die Brexit-Abstimmung kommt. Und jeder Schotte hätte da schon das Ergebnis ahnen können“, sagt David Barnett. „Wir haben gegen die Unabhängigkeit gestimmt. Und man kann eine Abstimmung nicht so oft wiederholen, bis einem das Ergebnis gefällt.“
Edinburgh ist mit seinen dunkelgrauen Steinmauern, versteckten Gässchen und allgegenwärtigen Schottenkaros das perfekte Postkarten-Idyll. Die Touristen kommen in Scharen – momentan sogar noch lieber als ohnehin. „Das liegt wohl an unserer Währung, der Wechselkurs ist besser für die Touristen“, sagt David schmunzelnd, bevor er in voller Schottenmontur inklusive Kilt und Kniestrümpfen wieder geduldig mit Reisenden aus aller Welt für Fotos posiert. In zehn Minuten verdient er etwa 30 Pfund, also gut 33 Euro. Vor drei Jahren wären es noch 42 Euro gewesen.
„Schottland ist wunderbar. Aber es wäre schön, weniger Unsicherheit zu haben und endlich mal zu wissen, wie es weitergeht“, sagt David, bevor er den Dudelsack wieder ansetzt und Passanten stehenbleiben, um seinen sentimentalen Highland-Klängen zu lauschen. Ich staune. Sogar im anti-englischen Schottland gibt es Brexit-Befürworter wie David. „Man ist entweder dafür oder dagegen, dazwischen gibt es nichts“, hatte Kerrin Neumann mir in Cornwall beim Tee gesagt. Aber ausnahmslos alle, mit denen ich gesprochen habe – Künstler, Verkäufer, Migranten, Handwerker, Geschäftsleute und Studierende –, haben genug von Chaos und Unsicherheit. Das höre ich immer wieder. Wenn es schon wehtut, dann lieber kurz und heftig statt lang und quälend. Zumindest das eint bei aller Spaltung die Briten dann doch irgendwie.
Als ich von Edinburgh zurück nach Berlin will, wird mein Flug gestrichen, weil es bei der Luftkontrolle in Brüssel Probleme gibt. Ein passenderes Ende der Tour durchs Brexit-Land – ich hätte es mir nicht ausdenken können.
Weitere Arbeitsproben von Jessica Wagener gibt’s hier im Portfolio auf Torial.
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