Sollte man nicht lieber neue Orte entdecken, statt wieder einmal dorthin zu reisen, wo man schon zig Mal war? TRAVELBOOK-Autorin Jessica Wagener hat ihre Antwort darauf gefunden: dass es in Ordnung ist, immer wieder an denselben Ort zu reisen.

[Dieser Text erschien zuerst auf TRAVELBOOK]

Früher habe ich sie belächelt und verachtet: Leute, die immer wieder an denselben Ort reisen. Erfahrungsfaule Spießer, risikoscheue Gewohnheitstiere, Langweiler. Ihre Aura müffelte nach Geranien und braungestreiftem Dauercamper-Vorzelt in Timmendorf, vielleicht noch nach Hotelpool-Chlor in Alicante. Menschen, die mehr als einmal an denselben Ort reisen? Die haben auch einen Jägerzaun im Vorgarten! Aber jetzt ist alles anders. Denn ich habe ganz unerwartet meinen Ort gefunden.

Seit ich das erste Mal auf dem Zuckerhut stand, mit offenem Mund und klopfendem Herzen auf die Stadt Rio de Janeiro blickte, bin ich ihr verfallen. Schon dreimal war ich dort; sobald ich kann, werde ich wieder hinfliegen. Ja, ich bin einer von ihnen geworden. Aber ich liebe das Licht, die Luft und die Leute in Rio. Die Musik. Den Strand mitten in der Stadt. Die Hitze und die Brise. Sogar den Dreck. Hier habe ich zum ersten Mal den Ausdruck „wie ein Fisch im Wasser“ verstanden. Wenn ich in Rio bin, fühlt sich alles richtig an, ich fühle mich richtig an.

Meine Liebe zu diesem Ort und mein wiederholtes Hinreisen ist keine rationale Entscheidung gewesen, aber es gibt rational betrachtet einige Vorteile:

1. Ich weiß, was sich lohnt.

Wenn man zum dritten Mal am selben Ort ist, weiß man, wo man hingehen kann und wo nicht. Während Mitreisende hektisch versuchen, möglichst viele Touristenattraktionen in wenige Tage zu pressen (Wir müssen noch zum Cristo! Und zum Zuckerhut! Und nach Santa Teresa! Und Lapa!), liege ich seelenruhig auf der Dachterrasse, schließe die Augen und bin einfach. Ich habe keinen Touri-Druck mehr, ich habe alles schon gesehen. Mehrfach.

2. Ich kenne mich aus.

Und das reduziert das Stresslevel erheblich. Ich muss keinen komplexen Plan darüber ersinnen, wie ich von A nach B komme und wo ich was genau einkaufen kann, wo ich was zu essen bekomme – ich weiß es inzwischen auswendig. Auch, dass man, wie in meinem Fall in Rio, Geduld braucht, nicht nur für den Straßenverkehr.

3. Ich spreche die Sprache.

Zumindest rudimentär. Ich kann mich inzwischen einigermaßen auf Portugiesisch verständigen und bin nicht gänzlich hilflos oder auf Wörterbücher angewiesen. Das erleichtert das Leben vor Ort und den Kontakt zu den Menschen ungemein.

4. Ich habe Freunde gefunden.

Sie sind so was wie eine zweite Familie, die ich leider nur einmal im Jahr sehe (Was übrigens häufiger ist als den Großteil meiner „echten“ Familie). Sie freuen sich jedes Mal, wenn ich komme. Das fühlt sich wie zu Hause an. Nur eben mit sehr viel mehr Sonne.

Möglicherweise hat mein veränderter Blickwinkel aber auch einfach mit der Erkenntnis über den Unterschied zwischen Reise und Urlaub zu tun. Eine Reise ist dazu da, Neues zu entdecken und zu erleben. Dadurch schenkt sie viel, aber sie fordert auch. Urlaub hingegen dient der Erholung. Und das geht nun mal am Besten ohne viel Gedankenarbeit. Da, wo man sich auskennt und wohlfühlt, wo man sich fallen lassen kann. Hauptsache, happy.

Und darum ist es völlig in Ordnung, immer an denselben Ort zu fahren. Egal, ob Rio, Alicante oder Timmendorf.


Weitere Arbeitsproben von Jessica Wagener gibt’s hier im Portfolio auf Torial.


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