Liebe Omi,

heute bist du seit genau sieben Wochen tot. Ich sehe immer noch dein Gesicht vor mir, als würdest du schlafen. Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich wünsche mir seitdem jeden Tag, dass du wieder lebst… Jedenfalls kann mich so was wie der Tod nicht davon abhalten, dir einmal in der Woche zu schreiben, was alles passiert ist.

Also.

Ich sage es ja nur ungern, aber: Opi geht’s beschissen, er ist arg depressiv. Dabei versuchen die Pfleger*innen schon alles, um ihn aufzumuntern. Er kommt zum Beispiel seit neuestem jeden Tag zum Frühstück in den Rollstuhl. Das würde dir gefallen, nicht wahr? Ist ja auch dein Plan gewesen, ihn jeden Tag zum Frühstück mit dir an deinen Esstisch zu rollen. Und dann hattest du selbst so mit deinen vielen Krankheiten zu kämpfen… Ach, Omi.

Für Opi ist das gut: Er wird mobilisiert, er sieht andere Menschen, er sitzt auch mal aufrecht, die Pflegekräfte können sehen, was, wie und ob er isst oder ob er dabei Hilfe braucht, das Verschluck-Risiko sinkt und so weiter. Aber er findet das – Überraschung – ganz und gar nicht gut. „Da sitzen nur Dussel“, motzt er und meint damit die anderen Bewohner*innen des Pflegeheims. Trotzdem spielt er mit ihnen Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, davon habe ich Fotos gesehen, die eine Pflegerin extra für mich gemacht hat. Außerdem meckert er, weil er nicht so lange sitzen kann: „Mir tut der Arsch weh.“ Weil ich aber eine gewitzte Enkelin bin, habe ich ihm ein Spezial-Sitzkissen bestellt und ihn überredet, es für mich zu testen, weil ich „das schöne Geld ja sonst aus dem Fenster geschmissen“ hätte. Ja, Omi – ich weiß. Trick 17!

Aber er macht mir dennoch Sorgen. Als ich das Wochenende mit ihm verbracht habe, war er so teilnahmslos, so abwesend – ich habe richtig Angst bekommen. So sehr, dass ich ihn vorsichtig gefragt habe, ob er denn überhaupt noch Lust zum Leben hat. „Ja“, hat er gebrummt. So ausgesehen hat er nicht. Er denkt viel an dich, macht deshalb manchmal nachts kein Auge zu. Ich versuche ihm immer zu sagen, dass es in den 61 Jahren Ehe ja auch genug schöne Momente gegeben haben muss, an die er denken kann, damit er nicht ganz so traurig ist.

Es hilft nicht.

Und weil Opa auch keinen richtigen Appetit hatte, bin ich losgerannt und habe ihm ein halbes Brathähnchen mit Mayo und zwei Stückchen Torte besorgt. Das hat er dann zu meiner Überraschung aber blitzschnell weggemupfelt. Das pürierte Essen im Pflegeheim ist aber auch einfach eine Zumutung. Und als ich zwischendurch von dem Hähnchen genascht habe, guckte Opi mich mit großen Augen an und sagte: „Krieg ich wohl auch noch was!“ Oh, Oma! Ich habe dich so laut lachen gehört: „Haha, ist der Opa futterneidisch?“ Wieder so ein Moment, in dem du bei uns warst und ich dich fast hätte berühren können.

Ach, Omi.

Übernachtet habe ich wieder bei meiner Schwester, die zwei Stunden in der Küche stand und mit meiner Hilfe für Opa Kartoffelpuffer gebraten hat. Die haben fast so gut geschmeckt wie deine. Und der Kartoffelsalat, den sie gemacht hat, war wirklich 1:1 wie deiner.

Ich konnte ihn nicht aufessen.

Was man von Opa und den Kartoffelpuffern nicht behaupten kann. Hat zwar ein bisschen gedauert mit dem Kauen, aber von fünf Stück hat er drei verdrückt. Gute Quote. Danach haben wir zusammen Mensch-Ärgere-Dich nicht gespielt und Opa hat mich wieder zweimal hintereinander eiskalt abgezogen. Selbstverständlich habe ich mich extra-laut geärgert, weil es ihn freut. Zumindest ein bisschen.

Doch als ich gehen musste, sah er wieder so traurig aus. „Ach, Opi. Jetzt fahre ich irgendwie mit einem schlechten Gefühl nach Hause.“ Er guckte mich an und sagte dann knochentrocken: „Wieso? Weil du zweimal verloren hast?“

Und dann musste ich mit feuchten Augen lachen und wäre fast vom Toilettenstuhl gefallen. Den Opa übrigens fast gar nicht mehr benutzt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach so: Meine Mutter wünscht offenbar, die Öffentlichkeit möge wissen, dass ich nun wirklich nicht die Einzige bin, die trauert. Sie hätte schließlich ihre Mama verloren. Stimmt und ist hiermit erledigt.

Allerdings habe auch ich meine Mutter verloren; sie hieß bloß „Oma“.

Ansonsten brüte ich eine fiese Erkältung aus, ist aber kein Wunder bei dem Stress und dem Wetter und der Jahreszeit und den ganzen Verschnupften in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber ich hole mir eine Flasche Holundersaft und dann wird das schon wieder, Omi. Hoffentlich geht es dir gut auf der anderen Seite und du bist nicht traurig, weil ich so oft so traurig bin (nicht als Einzige). Also, dann bis nächste Woche!

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 5: Du bist immer bei mir]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 4: Ohne dich ist alles doof]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 3: Was heißt eigentlich „tot“?]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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