Liebe Omi,

heute bist du seit genau acht Wochen tot. Und es gibt immer noch diese kleinen Momente, in denen ich das ganz kurz vergesse und das Erinnern daran ein bisschen so ist, wie es noch mal zu erfahren… Jedenfalls kann mich so was wie der Tod absolut nicht davon abhalten, dir jede in der Woche zu schreiben, was so passiert ist.

Also.

Opa hatte wieder einen Demenzschub. Als ich ihn neulich Abend anrief, war er ganz aufgebracht. Erst echauffierte er sich darüber, dass „das mit der Bedienung hier alles kacke“ wäre, weil immer neues Personal käme und er diese Menschen nicht kennen würde. Auch das mit der Pünktlichkeit regte ihn auf – egal, wie ausführlich ich ihm jedes Mal erkläre, dass das nicht so schlimm und auch nicht zu ändern wäre.

Doch dann fing er plötzlich an, von irgendwelchen Nummern zu erzählen, die nicht in der richtigen Reihenfolge wären. Die Tablettenfrau würde ihm immer Zahlen durchgeben und die stimmten alle nicht, die wären ganz durcheinander. Er las vor: „1, 4, 7,  2, 5, 8, 3, 6, 9…“

Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff: Er spricht von der Telefon-Tastatur.

Ach, Omi – ich höre dich schon wieder sagen: „Wenn man nicht lachen würde, müsste man weinen!“ Ich entschied mich – genau wie du meistens – fürs lachen. Inzwischen habe ich auch dazu gelernt und statt es ihm auszureden, meinte ich bloß: „Lass das mal mit den Zahlen, Opi. Es ist schon viel zu spät dafür. Das kannst du doch morgen noch in aller Ruhe prüfen.“

Am nächsten Mittag rief ich ihn an: „Und, Opi – wie sieht es aus mit den Nummern, stimmt heute alles?“
Seine furztrockene Antwort: „Welche Nummern?“

Also alles wieder okay soweit.

Nur vor Weihnachten graut mir. Es wird das erste Fest ohne dich sein. Wie soll ich das denn nur aushalten? Wie sollen wir zwischen Glanz und Glitzer besinnlich, harmonisch und heiter sein, wenn in unserer Mitte dieses kratergroße, tintenkalte Loch wabert und die Trauer alle Freude verschlingt? Wie soll ich „Stille Nacht“ singen ohne deine Stimme dazu?

Du hast die Familie zusammengehalten, du warst unser Kitt, unsere Klebe. Unser großes, weites, warmes Herz. Die Versöhnung und Vergebung, die Akzeptanz und Annahme, die Ordnung und der Plan. Die Umarmung und das Lachen. Das Zuhause. Du warst die bedingungslose Liebe für jeden von uns und ohne dich, Omi, wird Weihnachten so kalt wie dein Grab im November.

Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll. Ich vermisse dich so sehr. Weißt du noch, wie ich zu dir gesagt habe, dass du nicht bei mir spuken kommen sollst, wenn du tot bist, weil ich mich fürchte? Ich nehme das zurück. Ich möchte gern, dass du Weihnachten bei uns spuken kommst, Omi. Du kannst den kleinen Plastikbaum umschmeißen oder so, ganz egal. Hauptsache, ich weiß sicher, dass du wirklich bei uns bist. Für einen einzigen Moment nur.

Hoffentlich geht es dir gut und du vermisst uns nicht so sehr wie wir dich, Omi. Aber mach dir keine Sorgen – ich vermute, es wird mit der Zeit besser. Also dann, bis nächste Woche!

Deine Jessi

PS: Ich hab jetzt grüne Haare.


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 6: Was mach‘ ich nur mit Opi?]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 5: Du bist immer bei mir]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 4: Ohne dich ist alles doof]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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