Liebe Omi,

du bist nun seit vierzehn Wochen tot und manchmal stelle ich mir vor, du würdest neben mir sitzen und ich könnte noch mal deine kleine Hand halten. Ich erinnere mich auch das letzte Weihnachten zu Hause… Dein Tod kann mich keinesfalls daran hindern, dir zu schreiben.

Also.

Ich bin ziemlich krank, habe mir einen garstigen Virus eingefangen. So ganz langsam wird’s aber besser. Gott sei Dank, ich kann schon nicht mehr liegen. Wie Opa das nur macht den ganzen Tag…


Weil in wenigen Tagen Heiligabend ist und mir angesichts der Tatsache, dass es das erste Fest ohne dich sein wird, schlicht die Worte fehlen: Hier stattdessen ein Auszug aus „Wir geben Opa nicht ins Heim! Unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ – darüber, wie wir das letzte Weihnachten zu Hause verbracht haben.

Im Radio läuft „O Tannenbaum“, die Teller mit dem Kartoffelsalat sind leer. Es ist Zeit für die Bescherung. Ich hocke im Schneidersitz vor der Douglastanne, die wie jedes Jahr zu wenig Äste und zu viele viel zu bunte Kugeln trägt, und verteile nacheinander die Geschenke. Für Opa habe ich ein Hemd mit Stickereien gekauft. Vor ein par Monaten hatte er verkündet: „Wenn es mir wieder besser geht und ich endlich wieder richtig aufstehen kann, dann kleide ich mich neu ein. Mit einem weißen Anzug und einem bestickten Hemd. Ganz bunt.“ Mein Herz bricht nicht in einem Stück, es zerreißt fetzchenweise in Momenten wie diesen. „Doch nicht so eins“, schimpft er nun beim Anblick der knallroten Rosen auf taubenblauem Grund. Und statt mich zum zehntausendsten Mal in meinem Leben über seine Schroffheit zu ärgern, denke ich bloß: Juhu, er kann sich erinnern!

Natürlich habe ich auch für Oma ein besonderes Geschenk. Jedes Jahr hetzt mich das Gefühl, dieses sei möglicherweise wirklich unser letztes gemeinsames Weihnachten. Das letzte Mal dieser merkwürdig hübschhässliche Baum mit nicht zusammenpassenden Kugeln aus fast sechs Jahrzehnten, das letzte Mal vier goldgelbe Kerzen auf einem beängstigend ausgetrockneten Adventsgesteck, das letze Mal ums Königsberger Marzipan und die Nougattütchen feilschen, das letzte Mal Omas Kartoffelsalat mit Speck und Mayonnaise. Wenn es auf Weihnachten zugeht, spüre ich den Atem der Vergänglichkeit noch ein paar Grad heißer in meinem Ohr als ohnehin jeden Tag. Bisher sind wir davongekommen. Aber irgendwann wird es tatsächlich das letzte Fest gewesen sein, und wenn ich dann zurückblicke, will ich nicht sagen müssen: „Zum letzten Weihnachtsfest ihres Lebens habe ich meinen Großeltern was aus Salzteig und mit Kartoffeldruck geschenkt.“ Außerdem: Irgendwann hat man eben einfach alle halbwegs akzeptablen Kinderfotos seines Lebens in rührenden Kalendern verarbeitet.

Oma nestelt am Goldpapier des Kartons, auf ihrem Gesicht liegt ein kleines Leuchten. Aber das mag auch die Reflexion der Lichterkette sein: „Oh, was das wohl ist?“, fragt sie, und ich erkenne am Frohlocken in ihrer Stimme, dass sie zumindest eine Ahnung hat. Wenig später hält Oma eine lebensechte, irrwitzig teure Babypuppe von der Rückseite einer dieser Rentner-Illustrierten im Arm. Es ist die erste eigene Puppe ihres Lebens, darum habe ich sie ihr auch gekauft, und sie kann auch ihr winziges Plastikhändchen automatisch um einen Finger schließen. „So was Schönes“, flüstert Oma und wiegt die Puppe hin und her. Und für diesen einen Augenblick vergesse ich Angst und Sorgen, mein Herz pumpt Wärme durch meine Adern, und das gefühlte Leuchten auf meinem Gesicht kommt nicht von der Lichterkette.

So schön war es, das letzte Weihnachten zu Hause.

Du fehlst.

Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 12: Opi vermisst dich immer noch sehr]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 11: Dein Grabstein steht]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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