Liebe Omi,

du bist jetzt seit fünfundzwanzig Wochen tot und manchmal vergisst Opa das für einen Moment. Ich hingegen nie. Jedenfalls kann mich so was wie der Tod nicht davon abhalten, dir zu schreiben, was alles passiert ist.

Also.

Deine Schwester ist im Krankenhaus, Omi. Im selben, in dem du gestorben bist. Es geht ihr aber wieder besser, also mach dir keine Sorgen. Opa allerdings scheint das sehr aufgewühlt zu haben.

Sonntag Morgen klingelte mein Telefon. Auf dem Display die Nummer des Pflegeheims. Sofort fing mein Herz an zu wummern und die üblichen Notfallfragen tobten durch meinen Kopf, Zusammenfassung: „Scheiße! Ist was mit Opa?“

Aber keine Pflegekraft, sondern Opa selbst war dran. Und sagte ohne Begrüßung: „Mit dem Opa geht es zu Ende!“ Er klang aufgebracht, aber nicht schwach – also kein akuter körperlicher Notfall, notierte ich im Geiste. Und fragte, nur beinahe erleichtert: „Mit welchem Opa denn?“
„Na, mit unserem!“
„Wen meinst du? Wir haben einen gemeinsamen Opa?“
„Nein, ich meine mit mir.  Mit mir geht es zu Ende!“

Ein Augenblick lang Sprachlosigkeit. Dann Luft holen.

„Ach je. Wie kommst du denn bloß darauf, Opilein?“
„Ich weiß nicht genau. Na, und du hast doch gesagt, dass heute meine Beerdigung ist!“

Nach Luft schnappen.

„Nein, Opi! Um Himmels Willen, das würde ich niemals tun! Das geht auch gar nicht. Damit man beerdigt werden kann, muss man ja erst tot sein. Und wenn du tot wärest, könntest du jetzt nicht mit mir telefonieren. Siehste? Und wann genau man stirbt, das weiß niemand. Nur der liebe Gott. Verstehst du das, Opi?“

Kurze Stille.

„Wer ist denn da?“

Herzbrechgeräusch.

„Ich bin’s, Opi. Jessica.“
„Ah. Deine Stimme klingt so komisch.“
„Oh, echt? Ach, das kommt bestimmt, weil ich gestern spät im Bett war. Aber ich bin es wirklich. Geboren am 10.5., genau wie du. Weißt du noch?“
„Ja.“
„Mach‘ dir keine Sorgen, Opi. Du stirbst noch nicht.“
„Aber es sind doch so viele gestorben. Alle tot. Die Oma ist tot und der Thomas ist auch tot…“
„Ja, ich weiß, Opi. Ich weiß.“

Wimpernschlaglanges, unendliches Schweigen.

„Die Oma hatte ein sehr schwaches Herz und kaputte Nieren und Onkel Thomas hatte Krebs. Aber du bist gesund. Du wirst noch uralt! Deine Schwester ist auch schon über 90, deine Mutter ist 86 geworden. Und wer weiß, wie alt dein Vater geworden wäre, wenn ihn die Russen nicht erschossen hätten.“

Ablenkungsmanöver.

„Hast du denn irgendwelche Beschwerden? Schmerzen oder so?“
„Nein, soweit eigentlich nicht.“
„Ach guck, das ist doch schon mal gut. Richtig gut. Du bist kerngesund, Opilein. Dein Herz, deine Nieren – alles tippitoppi. Du hast nur Parkinson, aber davon stirbt man nicht.“
„Na, wenn du meinst.“
„Du kannst mir glauben. Bist du denn jetzt ein bisschen beruhigt?“
„Aber was ist denn, wenn ich versterbe? Wer hat denn die ganzen Papiere?“
„Na, ich!“
„Aber die müssen doch hier sein, wo ich bin!“
„Nein, Opi. Wenn du in ferner Zukunft eines Tages versterben solltest, dann brauchen wir die Papiere, damit wir alles regeln können.“
„Die Oma hatte ja alles für sich geregelt.“
„Für dich doch auch, mach dir keine Sorgen. Das ist alles geklärt.“
„Haben wir denn überhaupt noch genug Geld für meine Beerdigung?“
„Natürlich, Opa. Das haben wir alles im Griff. Keine Sorge.“
„Und was ist mit unseren Möbeln?“
„Welche Möbel? Die in deinem Zimmer?“
„Ja.“
„Das sind doch bloß ein paar. Die teilen wir auf oder verkaufen sie. Es ist ja nicht mehr viel übrig. Das haben wir alles schon ausgeräumt, als Oma ins Heim gezogen ist.“
„Der Zettel, auf dem steht, welche Blumen ich will, der liegt ja hier bei mir.“
„Ich weiß. Ich weiß. Ich habe auch eine Kopie davon bei mir. Es wird alles so, wie du es dir wünschst. Aber bis dahin haben wir noch viel Zeit.“

Mutgesammel.

„Oder hast du etwa keine Lust mehr zu leben, Opi?“
„Doch, schon.“
„Du vermisst die Oma, nicht wahr.“
„Ja.“
„Ich auch, Opi. Ich auch.“
„Manchmal denk ich, sie kommt durch die Tür.“

Stummes Weinen.

„Weißt du, was hilft, wenn man zu sehr an die denken muss, die schon gegangen sind?“
„Nein.“
„An die zu denken, die noch da sind. Ich zum Beispiel bin noch da. Mama ist noch da. Meine Schwester ist noch da. Die Kusinen auch. Du bist nicht allein, Opi.“
„Ja, eben.“


Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich ihn wieder einigermaßen beruhigt hatte, bis seine Stimme nicht mehr so schepperte. Das ist die Demenz, sie kommt in Schüben. Weißt du noch, Omi? Er hatte das schon früher in regelmäßigen Abständen, das mit dem „es geht zu Ende“. Damit artikuliert er seine Angst vor dem Tod. Seit ich bei deinem Tod dabei war, Omi, habe ich ein kleines bisschen weniger Angst davor. Was immer noch eine ganze Menge ist.

Am Nachmittag hat ihn dann die Großkusine besucht. Ihr hat er erzählt, dass seine Frau ihn gestern besucht hätte. Er meinte meine Mutter. Obwohl… Wer weiß? Vielleicht hast du dich auch zu ihm auf die Bettkante gesetzt und ihn getröstet. Vielleicht haben demenziell Erkrankte – ähnlich wie Kinder – einen stärkeren Draht zur anderen Seite. Zu dir, Omi, denn da bist du jetzt. Auf der anderen Seite.

Du fehlst uns immer noch. Jeden Tag. Aber es wird ganz langsam, wirklich.

Okay, Omi. Das war’s soweit von mir. Ich hoffe, es geht dir gut und du machst dir nicht so viele Sorgen um Opi. Wir passen schon auf ihn auf. Es ist noch Zeit, bis er eure Party im Himmel stürmt und auf Wolke Sieben die Sicherung rausdreht… Und jetzt kann ich dich tatsächlich von weit her lachen hören. Also, bis nächste Woche dann.

Deine Jessi


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Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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