Liebe Omi,

du bist jetzt seit genau zwei Wochen tot und es ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht mindestens dreimal das Bedürfnis hatte, dich anzurufen und dir von irgendetwas zu erzählen. Zum Beispiel von deiner Beerdigung.

Denn nur, weil du tot bist, höre ich nämlich noch lange nicht auf, dich zu lieben, an dich zu denken und lauter Dinge zu erleben, sehen und zu hören, die dich interessiert oder zum Lachen, Schimpfen oder Staunen gebracht hätten.

Darum schreibe ich das jetzt immer wöchentlich auf. Als Zeichen dafür, dass du nicht vergessen bist und in meinem Herzen und in meiner Erinnerung weiterlebst.

Also.

Am vergangenen Donnerstag war deine Beerdigung. Und ich weiß, es klingt irgendwie morbide – aber die hätte dir wirklich gut gefallen. Die Sonne schien ganz wunderbar, der Blumenschmuck aus pinkfarbenen Nelken und blauen Iris war prachtvoll und wunderschön – genau so, wie du es dir gewünscht hast (gut, dass wir vorher darüber gesprochen haben).

Die gesamte übrig gebliebene Familie war auf deiner Beerdigung, sehr elegant gekleidet und äußerst gesittet. Nicht so wie auf der katastrophalen Beerdigung vom Onkelchen. Liebe Güte. Nein, sie hatten dich alle wirklich sehr lieb, Omi, und haben sich zusammengerissen. Auch die Trauerrede war berührend, ergreifend und wurde dir und deinem Leben gerecht. Eine der Großkusinen urteilte „Genauso, wie sie wirklich war!“

Ich hatte vorher die Stichpunkte für die Rede einigermaßen detailliert vorbereitet und dich ja schon vor Monaten bezüglich aller möglichen Details aus deiner Kindheit und Jugend ausgequetscht. Wie du als Kind gern Pflanzen umgesetzt hast, zum Beispiel. Ich habe Rotz und Wasser geheult. Ach, die Rede hätte dir zugesagt, Omi. Oder um es in deinen Worten zu sagen: Sie war tadellos.

Opi war tapfer

Opi war die ganze Zeit auf der Beerdigung außerordentlich tapfer und sah auch echt gut aus mit seiner schwarzen Anzughose, dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte. Als ich ihm zu seinem guten Aussehen ein Kompliment machte, lautete sein lapidarer Kommentar bloß: „Ich weiß.“ Darüber hättest du dich garantiert wieder ausgeschüttet, Omi.

Leider war ein bisschen Möhrenpüree vom Mittagessen auf sein Hemd getropft, aber das habe ich schnell weggewischt und dann ging’s.

Opi hat auch fast gar nicht geweint auf deiner Beerdigung, anders als meine Schwester und ich. So Nimm Denn Meine Hände hätte mir fast den Rest gegeben. Als dein Sarg von den Trägern hochgehoben wurde, habe ich mich tatsächlich kurz komplett vergessen und ein paar Mal verzweifelt „Nein, Omi – nicht weggehen, Omi!“ gerufen.

Es war, als wäre mein Herz bei dir im Sarg.

Und als ich Opa im Rollstuhl auf dem langen Weg zum Grab langsam hinter dir hergeschoben habe, sind die ganze Zeit meine Tränen auf seinen Hut getropft. Er hat es aber nicht gemerkt.

Er war nämlich viel zu sehr beschäftigt mit meckern und motzen. Typisch Opi.

„Warum sind hier denn so viele Gräber?“, fragte er mürrisch.
„Weil das hier ein Friedhof ist, Opi“, sagte ich.
„Ja, aber so viele?“
„Die Menschen sterben eben wie die Fliegen, Opi.“
Dann motzte er: „Ist es noch weit? Wieso ist das denn so weit?“
„Keine Sorge, Opi, du musst ja nicht laufen. Ich schiebe dich.“
„Kann ich ja auch gar nicht mehr.“
Als Mama kurz das Schieben übernahm, ranzte er sie an: „Nicht so dicht auffahren!“

Wir mussten für einen Moment tatsächlich unter Tränen so was wie lachen.

Irgendwann fragte Opi unvermittelt: „Und wo genau liegen wir?“

Wir, Omi. Er hat „wir“ gesagt.

Ach, ach.

Schlimmster Moment der Beerdigung

Dann haben Mama, meine Schwester und ich „Es scheint der Mond so hell“ gesungen, das war schön. Und sehr, sehr traurig. Die letzte Strophe haben wir verrissen, weil wir den Text nicht auswendig kannten. Aber das war nicht so schlimm, wir fühlten uns dir in dem Moment sehr nah, auch einander. Und das kommt ja nun mal nicht allzu oft vor, wie du weißt.

Als dich die Träger in die Erde gelassen haben, war das für mich der allerschlimmste Moment der Beerdigung. Ich hab so doll geweint, dass mir Schnodderblasen aus der Nase kamen und meine Knie ganz wacklig waren. Eine Sekunde lang wäre ich am liebsten hinterher gesprungen.

Doch dann hat Opi seine rote Rose mit so viel Schwung und Schmackes in dein Grab geworden, das hätte ich ihm gar nicht mehr zugetraut. Und dann musste ich trotz allem wieder ein bisschen lächeln.

Kaffee und Kuchen war so mittel

Das Café hat Glück, dass es das einzige in Friedhofsnähe ist. Darum ist’s mit dem Mühegeben auch nicht allzu weit her. Erst haben die den Aperitif komplett vergessen, dann hat es nahezu ewig gedauert, bis endlich Kaffee und Schnittchen auf den Tisch kamen. Und die waren dann leider auch ein wenig trocken, genau wie der Butterkuchen auch. Dein Kuchen war aber eh der Allerbeste Omi, weißt du ja selbst.

Und dann, als der Tisch schließlich voll war, hat Opa plötzlich mittendrin in den Raum hinein geranzt: „Was soll das denn alles hier? Eine Würstchenbude hätte doch gereicht!“

Oh, Omi – ich höre dich grad so laut lachen!

Dafür, dass ihm eine Würstchenbude gereicht hätte, hat er aber bei Brötchen und Gebäck richtig ordentlich reingehauen: zweimal Mett, einmal Käse, einmal Ei und zwei Stücke Butterkuchen. Wie immer habe ich ihm das alles kleingemacht und die Rinde abgepult. Aber wehe, ich war nicht schnell genug mit Füttern, dann hat er mich mit dem Ellenbogen in die Seite gepufft und wortlos den Mund weit aufgesperrt. Wie ein kleines Vogelküken. Der Opa!

Die ganze Familie hat nach deiner Beerdigung in Ruhe, Frieden und Gemütlichkeit miteinander geplauscht, wir haben uns alte Fotos angeschaut und noch ältere Geschichten erzählt. Von deinem abgebrannten Kleiderschrank und wie du immer für alle genug zu essen im Haus hattest. Dass wir jederzeit Freunde mitbringen konnten und sie immer willkommen waren. Wir haben von deinen fiesen Witzen und deinem großen Herzen erzählt. Davon, wie du immer ziemlich leicht zu überzeugen warst und von deinem Kartoffelsalat mit der guten Mayonnaise vom Schlachter.

Ich habe Opi dann nach der Beerdigung und dem Leichenschmaus (fürchterliches Wort!) zurück ins Pflegeheim begleitet und ihn mit ins Bett gehievt. Da ist er dann auf seinem Extrakissen direkt eingeschlafen, so fertig und erschöpft war er. Ging mir aber ganz genauso später im IC nach Berlin.

Omi, deine Beerdigung war emotional, mental und auch körperlich unsagbar anstrengend. Aber es war auch ein angemessener, würdevoller, schöner und guter Abschied. So, wie du ihn dir gewünscht hast.

Ein Abschied von jemandem, der noch hier sein sollte. Wenigstens ein kleines bisschen noch. Ich bin doch noch gar nicht bereit für den Rest meines Lebens ohne dich!

Du fehlst so sehr.

Okay, Omi. Das war’s so weit erst mal von mir. Ich hoffe, es geht dir gut oben auf Wolke Sieben und die ganzen Harfen sind nicht so nervig. Ich melde mich dann nächste Woche wieder und schreib dir, wie’s dem Opi und mir so geht.

Deine Jessi

 


Zum Hintergrund:

Meine Großeltern lagen mir mein Leben lang immer sehr am Herzen. Sie waren die allerwichtigsten Menschen für mich. Nicht nur, weil sie mich weitgehend mit großgezogen und uneingeschränkt lieb gehabt haben – sondern auch, weil wir ein eingeschworenes Dreier-Team waren. Das war nicht geplant, das hat sich so entwickelt. Wir hingen halt ganz gern zusammen rum.

Omi wurde als erste krank und hatte einen Herzinfarkt. Der wurde leider – wie bei so vielen Frauen – nicht sofort erkannt. Deshalb war ihr Herz danach ziemlich schwach. „Die Pumpe klappert wieder so“, wie Omi stets zu sagen pflegte. Von dem Moment an gab es immer wieder Probleme mit den unzähligen Tabletten, mit Stents, mit Verschlüssen und den Nieren…

Opi hingegen hielt sich lange recht ordentlich. Bis bei ihm Parkinson diagnostiziert wurde und eine beginnende, leichte Demenz. Einige Zeit kamen die beiden in ihrem Alltag noch ganz gut zurecht. Aber das sollte leider nicht von Dauer sein…

Eines Tages im Sommer hatte Opi nicht genug getrunken und ist deshalb kollabiert. Einfach umgekippt. Er kam dehydriert ins Krankenhaus – auf die geriatrische Station – und litt an einem sogenannten Durchgangssyndrom. Seine Demenz war für die Zeit des Klinikaufenthaltes plötzlich stark ausgeprägt. Er erkannte uns nicht und trat um sich.

Es brach uns das Herz.

Aber das war nur der Anfang. Opi wurde bettlägerig und Omi konnte sich rein körperlich nicht um ihn kümmern. Sie hat es versucht. Natürlich hat sie das. Und ich habe, vor allem mit Unterstützung meiner jüngeren Schwester, den beiden geholfen, so gut es ging.

Es ging nicht immer so gut.

Über unseren schwierigen Weg von der Pflege zu Hause zum Umzug ins Pflegeheim und unsere Entscheidung habe ich in dem Buch Wir Geben Opa Nicht ins Heim alles geschrieben.

Ihre letzte gemeinsame Zeit haben Omi und Opi in zwei miteinander verbundenen Zimmern verbracht. Ich habe Omi einen Mini-Kühlschrank bestellt. Für Snacks und weil sie so Opi jeden Abend selbstbestimmt sein Brot schmieren konnte. Wie sie es über fünf Jahrzehnte lang gemacht hat. Wir haben auch Weihnachten im Pflegeheim zusammen gefeiert. Es gab in all dem Stress und Kummer auch immer wieder schöne Momente voller Liebe und Humor.

Omi ist im September 2016 im Krankenhaus an Nierenversagen gestorben. Ich war bei ihr. Wir hatten vorher darüber gesprochen. Übers Sterben und ihre Wünsche, die Beerdigung, alles. Das waren keine leichten Gespräche. Aber sie haben es der Familie leichter gemacht. Und Omi Frieden geschenkt. „Ich habe alles geregelt, da ist nichts mehr zu klären“, hat Omi bei unserem letzten Telefonat zu mir gesagt. Opi hielt es noch sieben Monate ohne seine Frau aus. Dann starb auch er, ganz plötzlich, vermutlich Kreislaufversagen. Jetzt liegen sie beide für immer nebeneinander.

Die Trauer um die beiden hat mich fast verschlungen. Wirklich, ich dachte, ich überlebe es nicht. Aber ich hab’s dann doch überstanden. Wie, das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Einfach einen Tag nach dem anderen.

Aber eins muss ich an dieser Stelle festhalten: ohne Omi und Opi fehlt ein großer Teil von mir. Da ist ein unsichtbares, großelternförmiges Loch und das wird auch für immer so bleiben.

Bis wir uns eines Tages auf Wolke sieben wiedersehen und zusammen Kuchen essen.


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