Liebe Omi,

du bist jetzt seit genau drei Wochen tot. Wie kannst du überhaupt tot sein? Ein Teil von mir will das nicht begreifen. Das ist doch absurd! Jedenfalls hält mich so etwas wie der Tod nicht davon ab, dir wöchentlich die Neuigkeiten zu berichten.

Also.

Am Wochenende bin ich zu Opi gefahren und es war herzzerreißend. Als ich an die Tür zu euren beiden Zimmern kam, stand nur noch sein Name auf dem Schild, deiner nicht mehr. Ich bekam kurz keine Luft, konnte mich aber grad noch so zusammenreißen.

Die ersten zwei Stunden hat Opa so gut wie nicht mit mir geredet. Nicht mal ja oder nein, kein Wort. Sein Blick war starr und leer, sein Kopf hing noch tiefer zwischen seinen spitzen Schulterchen als sonst. Er ist so traurig ohne dich, Omi. Er hat dich ein Stückchen mehr geliebt als du ihn, denke ich. Ich weiß nicht, was ich machen soll, damit er wenigstens ein bisschen weniger traurig ist. Ich fühle seinen Schmerz und ich kann nichts tun.

Wenn ich nicht bei ihm bin, rufe ich ihn jeden Tag an, erzähle ihm von dir. Davon, dass es dir gut geht und du jetzt endlich gesund bist, dass du genug Luft bekommst und keine Schmerzen mehr hast.

Ach, Omi. Wir denken, dieses „Bis der Tod euch scheidet“ sei ein erstrebenswert. Aber nur, wenn man zuerst stirbt. Denn ein Abschied nach über 60 Jahren ist grauenvoll. Opi tut mir so leid.

Ich habe ihn trotzdem gezwungen, sich in den Rollstuhl zu setzen und mit mir raus zu gehen. Genau wie du. „Rede nicht, Opa. Es wird gemacht, wie ich es sage“, höre ich deine Stimme. Bald wird es außerdem zu kalt. „Man muss das Wetter ausnutzen“, hättest du gesagt. Ich habe ihn in den Garten geschoben und wieder heimlich auf seinen Hut geweint. Und erst, als wir die große Runde fuhren, fing er an zu reden. „Mach schneller. Das ist zu kalt!“ und ich musste trotz Trauer ein bisschen lächeln.

Als wir wieder auf dem Zimmer waren, habe ich ihm Haribo und Erdbeer-Sahne-Joghurt gegeben, das hat er auch alles brav gegessen. Außerdem wollte er noch alle Fotos von dir sehen, besonders ganz ausdrücklich das letzte aus dem Krankenhaus, auf dem man ahnt, dass du schon auf dem Weg bist. Ich nehme an, das macht ihm den Abschied leichter. Es tat uns beiden gut, uns gemeinsam an dich zu erinnern.

Am Abend bin ich zum übernachten zu meiner Schwester gefahren. Sie hat mein Lieblingsessen von dir gekocht: Petersiliensoße. Und es hat so gut geschmeckt wie bei dir. Doch als ich den Balkon sah mit den Stuhl, auf dem ich den Anruf bekam – da musste ich wieder weinen.

Ich weine überhaupt sehr viel in letzter Zeit, aber das hattest du ja geahnt: „Du wirst es am schwersten haben, wenn ich mal nicht mehr bin.“ Aber meine Schwester weint genauso viel; wir haben dich eben beide sehr geliebt. Darum haben wir später auch mehrfach auf dich angestoßen, mit Rotwein. Es war ein gemütlicher Abend mit dir in unserer Mitte. „Sei froh, dass du eine Schwester hast“, hast du immer gesagt. Bin ich, Omi. Ohne sie würde ich das alles gar nicht aushalten. Immer, wenn ich dich anrufen will, rufe ich stattdessen sie an.

Wir telefonieren ziemlich oft.

Jedenfalls war ich auch am Sonntag wieder bei Opi und da ging es ihm schon etwas besser. Er hat Mittagessen, Eis, einen Schoko-Muffin, Haribo, Kekse, Götterspeise und Kuchen gegessen – alles knallhart weggemupfelt! Und du hättest wieder gestaunt: „Was der Opa alles essen kann, also, da muss man sich wirklich wundern.“ Und dann hättest du wieder so gelacht, dass dein Bauch wackelt.

Ach, Omi.

Ich habe ihm außerdem eine Stunde lang alle möglichen Lieder vorgesungen, weil ich weiß, dass er Singen liebt. Von „Das Wandern ist des Müllers Lust“ über „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ bis zu dem Lied von dem Harung mit Erfahrung. Zwei mal. Jedes Lied. Ich glaube, das hat ihn gefreut. „Ach, der Opa kann es nur nicht so zeigen“, hast du oft gesagt; das ist schon vor Parkinson so gewesen.

Zum Schluss haben wir noch Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt und ich weiß nicht, wie dieser demenz- und parkinsonkranke Knattergreis das immer schafft – aber er hat mich dreimal hintereinander demütigend vernichtet. Ich kam nicht mal ins Spiel, da hatte er schon gewonnen. Und ich habe mich extralaut geärgert, weil ich weiß, dass gewinnen ihn glücklich macht.

„Auch, wenn Oma nicht mehr da ist – du hast noch Menschen, die dich lieben, Opi. Weißt du das?“
„Ja, das weiß ich.“
„Dann ist ja gut.“

Jedenfalls fehlst du uns allen so unglaublich, du kannst es dir nicht vorstellen.

Okay, Omi. Das war’s erst mal. Ich hoffe, dir geht’s gut, wo immer du auch bist. Bis nächste Woche.

Jessi


[Lest auch Brief an Omi Nr. 1: die Beerdigung]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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