Liebe Omi,

du bist jetzt seit genau vier Wochen tot. Diese Welt existiert also schon einen ganzen Monat lang ohne deine Wärme, deinen Witz. Wie kann das sein? Tot – was soll das überhaupt bedeuten? Jedenfalls kann mich das nicht davon abhalten, dir zu schreiben, was alles passiert ist.

Also.

Opi hat jetzt ein Telefon an der Wand neben seinem Bett, so kann ich ihn jederzeit anrufen, ohne das Pflegepersonal bemühen zu müssen. Vorher, mit dem Telefon ganz hinten auf dem Beistelltisch, kam er ja nicht dran.

Mittlerweile habe ich es ihm so oft eingeschärft, dass er mir am Telefon immer als erstes von selbst versichert, genug gegessen und getrunken zu haben. Ich hatte nämlich große Sorge, dass er noch mehr abnimmt, wenn er nicht jeden Abend deine Stulle mit der fünf Zentimeter-Schicht Leberwurst und Butter bekommt. Wenn er zu dünn wird, steigt das Dekubitus-Risiko. Aber keine Sorge, Omi – genug Schokolade, Kuchen und Kekse sind in Sachen Kalorien ein spitzenmäßiger Ausgleich.

Ansonsten können wir immer noch nicht glauben, dass du wirklich tot bist. Einfach weg. Was bedeutet das denn? Ich kann doch noch deine Stimme in meinem Kopf hören. Ich weiß noch, wie es sich anfühlt, dich zu umarmen. Deine Stirn zu küssen. Deine vereinzelten Barthaare auszuzupfen und deine kleine Hand zu halten, deinen Rücken zu schubbern. Wie du riechst und wie du lachst. Was du gesagt hättest.

Und mir graut vor dem Moment, in dem ich das vielleicht vergessen haben werde.

[Nachlesen: Ich werde mich erinnern, Omi]

Ach, Omi.

Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit gehe, muss ich an dich denken. Jeden Tag, wenn ich in die Mittagspause gehe, muss ich an dich denken. Jeden Tag, wenn ich Feierabend habe, muss ich an dich denken. Weil das die Zeitpunkte waren, an denen ich dich angerufen habe. Manchmal nur ganz kurz, weil du „nisseln“ (schlafen) wolltest oder dem Opa was zu essen gemacht hast. Aber wir haben uns immer alles erzählt, gelästert, gemotzt und gelacht. Jetzt rufe ich stattdessen Opa an, aber der redet halt nicht so viel. Du kennst ihn ja.

Neulich jedoch sagte er am Telefon: „Ich denke viel an die Oma.“ Auf meine Frage, was genau er denn so denke, antwortete er: „Na, dass sie nicht mehr da ist.“
Und dann meinte er: „Ich habe auch von der Oma geträumt; dass sie uns beschützt.“

Ich musste kurz nach Luft schnappen. Dann sagte ich: „Aber Opa – natürlich beschützt sie uns! Das kann ich dir versichern. Du kennst sie doch: Sie wäre lieber selbst verhungert, als dass jemand aus ihrer Familie verhungert. Oma hat sich immer um uns gekümmert, das hört auch jetzt nicht auf. Sie sitzt auf Wolke sieben und hat uns genau im Auge. Also mach lieber keinen Scheiß.“
„Ja.“ Er klang so leer, so müde.
„Nur, weil ihr Körper nicht mehr hier ist, ist doch die Liebe nicht weg, die sie uns gegeben hat und die wir für sie seit Jahrzehnten im Herzen haben. Die Erinnerungen, die Gefühle, die Liebe, alles“, sagte ich und sprach dabei auch zu mir selbst.
„Ja.“
„Ach. Ich bin genau so traurig, Opi. Ich würde gern irgendwas tun, um dir den Schmerz abzunehmen.“
„Da muss ich schon selber durch.“
„Opilein, weißt du: Wenn wir Omi immer in unseren Herzen behalten, wenn wir über sie sprechen, ihre Meinung im Kopf haben und ihre Kommentare, wenn wir wissen und darüber reden, was ihr gefallen hätte und was nicht, wenn wir sie spüren können – dann ist sie gar nicht wirklich tot. Dann können wir sie zwar nicht mehr sehen, aber sie ist noch bei uns.“
„Ja.“
Und ich merkte, dass das meine tiefe Überzeugung war.
„Außerdem, Opi: Du hast ja mit ihr auch eine Familie gegründet, die noch da ist und dich liebt. In zwei Generationen. Das muss man auch erst mal schaffen.“
„Eben.“


Neben mir, meiner Schwester und meiner Großkusine besucht auch Mama Opa jetzt regelmäßig und zockt mit ihm „Mensch Ärgere Dich Nicht“. Ich finde das sehr schön und weiß, dass es dir genau so gefallen hätte. Die beiden haben früher auch oft zusammen Karten gespielt. Aber das kriegt Opa ja schon lange nicht mehr hin.

Ach, Omi. Alt werden ist echt nichts für Weichflöten.

Jedenfalls fehlst du uns so sehr, es ist einfach unglaublich.

Okay, Omi – sonst ist bei mir aber soweit alles in Ordnung. Außer ein bisschen Schnupfen. Ich hoffe, es geht dir gut, wo oder was auch immer du jetzt bist: Ein goldenes Irrlicht oder ein Engel im Nachthemd mit Flügeln, ein schimmernder Schatten oder ein Lichtpünktchen in einer Seelenmatrix irgendwo im Universum. Also, dann bis nächste Woche.

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 2: Opi ist so traurig]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 1: die Beerdigung]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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