Ich sitze an der Straße in Rio. „Draußen nur Kännchen“, muss ich denken – Twitter ist schuld. Davon hat der brasilianische Kellner in der langen Hose und dem grün bedruckten Poloshirt natürlich keine Ahnung. Wovon er jedoch sehr wohl Ahnung hat: Ich bin eine Gringa und er wird wahrscheinlich Englisch mit mir sprechen müssen.Womöglich musste ich deshalb etwas länger auf ihn warten; Vielleicht hat er beim Streichholzziehen mit seinen Kollegen verloren. Er trottet mit zusammengezogenen Augenbrauen an meinen Tisch und noch bevor er etwas sagen kann, stammele ich auf Portugiesisch: „Gibt es auch eine Karte in englischer Sprache?“

Mit schwungvollem Griff langt er schräg hinter sich und legt mir ein laminiertes, buntes Heftchen auf den Tisch. Augenblicklich versinke ich im Angebot und murmele die Übersetzungen auf Deutsch vor mich hin, während mein Bleistift manisch über den Kästchen auf dem Bestellzettel kreist.

Runterkommen, ankommen

Hier bei „Bibi“ kann man sich nämlich aus fünf bis fünfzehn Zutaten einen Salat selbst zusammenstellen. Außerdem kann man aussuchen, ob man wenig, normal oder viel Dressing will und sogar, ob es in einem Extra-Schälchen gereicht werden soll. Das neue Design der Karten wurde von einem örtlichen Künstler namens Kakau Höfke gestaltet, lese ich, und niemand weiß, warum ich kichere.

Schließlich reiche ich dem Kellner aufmunternd und wortlos lächelnd meinen ausgefüllten Zettel und atme durch. Fast vier Tage habe ich gebraucht, um runterzukommen. Und mit runterkommen meine ich nicht den Alltag abzustreifen, sondern die immer wieder spontan auftretende Glückstränenflut einzudämmen und die Tatsache zu verarbeiten, dass ich wirklich hier bin. Hier in Rio, meiner Herzensstadt. Die heftige Zuneigung zu diesem Ort traf mich schon bei meinem ersten Besuch unvorbereitet, aber so ist das mit der Liebe ja meistens.

Liebe für einen Ort

Das Erstaunliche ist: Diese Liaison zwischen Rio und mir geht nun schon ins dritte Jahr und verliert kein Fitzelchen an Intensität. Ich habe aufgegeben, verstehen zu wollen, was hier mit mir passiert und warum.

Nur eins weiß ich: Wenn ich in Rio bin, bin ich glücklich. Als würde jemand ein Fass „Alles ist gut“ über mir und meinen Sorgen ausschütten. Und das ist es, was mich skeptisch macht: Ist das normal? Kann das wirklich gut sein – ein Ort, der alle Sorgen weichzeichnet? Der Gedankenschatten flattert davon, während das Essen kommt.

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Ich habe einen Salat aus Vollkornpasta, Walnüssen, Oliven, getrockeneten Tomaten, Avocado, und Mango bestellt, mit Olivenöl-Limetten-Balsamico-Dressing. Selbst die kleine Portion ist riesig. Und vor allem unfassbar köstlich.

Nirgends schmeckt Mango so wie in Brasilien. Mein Gott, das  bedauernswerte Obst in unseren heimischen Supermärkten sollte sich schämen. Saftig, süß, perfekte Konsistenz. In meinem Mund winden sich die verschiedensten Aromen gleichzeitig um meine Zunge. So, als würde ein Künstler – von mir aus Kakau Höfke – in meinem Mund ein knallbuntes Bild malen. Ich esse mit geschlossenen Augen und spüre, wie meine kauenden Wangen sich zu einem Grinsen ausbreiten.

Angst vor Geschmacksverlust

Ich denke sekundenlang an damals, als die Ärztin mir den Chemo-Aufklärungsbogen vorlas und neben all den Scheußlichkeiten, die ich zu ertragen bereit gewesen war, ausgerechnet der mögliche Verlust meiner Geschmacksnerven dafür sorgte, dass ich das erste Mal seit der Diagnose wenige Wochen zuvor in Selbstmitleid versank.

Aber hier sind wir nun, meine unversehrten Geschmacksknospen und ich, und feiern uns für unseren Wagemut bei der Auswahl. Zum Nachtisch bestelle ich einen Saft – Cacau, ohne Höfke. Natürlich kichere ich wieder.

Und in diesem Moment ist alles gut. Hier, in Rio.

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