Liebe Omi,

du bist nun seit siebzehn Wochen tot und ohne dich fühlt sich immer noch alles falsch an. Das ist so alles nicht okay. Jedenfalls kann mich aber dein Tod mitnichten daran hindern, dir jede Woche zu schreiben, was so bei uns los ist.

Also.

Wenn jemand fragt, wie es mir geht, sage ich: „Ganz okay.“ Und das ist nicht wirklich gelogen. Aber ein bisschen vielleicht schon. Ich kann nämlich nicht fassen, dass das Leben immer noch einfach so weitergeht. Sonne geht auf, Sonne geht unter, dazwischen passiert das Übliche. Wir sind nun schon seit fast vier Monaten ohne dich auf dieser Welt und das ist, wenn man mal kurz darüber nachdenkt, das Absurdeste, das man sich überhaupt vorstellen kann. Eine Welt ohne dich ist unvollständig und dreht sich schief. Es ist nicht okay. Gar nicht.

Merkt denn niemand, dass dein Apfelstreuselkuchen mit Zimt nicht mehr gebacken wird, der mit dem „ganz einfachen“ Hefeteig? Fällt denn keinem auf, dass Gespräche seit Monaten ohne deine rustikalen, zuweilen scharfzüngigen Witze auskommen müssen? Hören die Ärzte denn nicht, dass du dich nicht mehr über sie aufregst? Vermisst denn keiner dein Lachen? Weiß denn niemand, dass der Winter bloß so kalt ist, weil deine Liebe fehlt? Fühlt denn keiner, dass dein Herz nicht mehr schlägt?

Also, keiner außer uns.

Ich finde es nicht okay, dass alles okay ist oder sein soll oder so aussieht. Nicht okay, Oma. Es ist nicht okay, dass du tot bist.


Wie gern würde ich dir ein paar Dinge erzählen, meinen Arm um deine Schultern. Dass Opi tatsächlich einen neuen, supermodernen Spezialrollstuhl bekommen hat und häufig ein paar Stunden darin sitzt, dass wir sieben Runden Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt haben und er mich in sechs davon vernichtend geschlagen hat. Dass er „unser Spiel“ sagt und es ihn glücklich macht und mich das freut. Aber ich kann nicht und ich weiß eben nicht, ob du mich wirklich hören kannst.

Und das ist nicht okay.

Ach, Omi. Das wird schon. Aber wo auch immer du jetzt bist: Ich hoffe, du weißt, dass du hier fehlst. Also, dann bis nächste Woche.

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 14: Das erste Weihnachten ohne Dich]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 13: Das letzte Weihnachten zu Hause]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 12: Opi vermisst dich immer noch sehr]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

Startseite » Briefe an Omi » Brief an Omi, Nr. 15: Die Welt ohne dich ist nicht okay