Liebe Omi,

du bist nun seit achtzehn Wochen tot und den Moment, als ich deine kalte Stirn küsste, zum letzten Mal, für immer, werde ich niemals vergessen. Allerdings kann mich dein Tod nicht davon abhalten, dir jede Woche zu schreiben, was passiert ist.

Also.

Ich glaube, du mochtest es nie im Pflegeheim. Ich glaube, du mochtest es vor allem nicht, offiziell hilfebedürftig zu sein. Du, die sich doch immer um alle gekümmert hat. Das Pflegeheim hat dich deines Wesenskerns beraubt. So hast du das jedenfalls gefühlt, glaube ich.

Aber du wusstest auch, dass es nicht mehr anders ging. Du warst allein zu Haus, nachdem Opa in die Einrichtung ziehen musste und dein Sohn gestorben war. Und es ging dir immer schlechter. Wie oft bin ich vor Angst fast ausgeflippt, weil du stundenlang nicht ans Telefon gingst und dann nicht etwa gestürzt, sondern „nur“ beim Friseur gewesen bist.

Und du wolltest auch wieder bei deinem Mann sein. Es hätte auch alles fast erträglich werden können, Omi. Dein Zimmer war gemütlich (soweit es ging), das Essen hat dir geschmeckt (meistens) und du konntest eine eigene Tür zumachen, wenn Opi zu anstrengend wurde (manchmal). Außerdem war jemand da, der im Notfall einen Krankenwagen für dich rufen konnte (immer).


Aber du warst nun mal nicht dement. Du hast genau mitbekommen, was in der Einrichtung schief lief: zeitweise eine Menge. Jedes Mal hast du dich furchtbar aufgeregt. „Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich bin doch kein Kind! Nein, mit mir nicht!“ hast du oft geschimpft und auch „Was Recht ist, muss Recht bleiben!“ Du warst eine unbequeme Bewohnerin, Omi. Ich bin so wahnsinnig stolz auf dich, dass du trotz wachsender Konflikte jedes Mal den Mund aufgemacht und dich für Opi, dich selbst und die anderen stark gemacht hast.

Oft wünschte ich, du wärest noch da und würdest auf Opi aufpassen. Wir versuchen es, so gut es geht. Aber das ist natürlich kein Vergleich zu jemandem, der 24 Stunden lang anwesend ist. Wenn ich frage: „Hast du deine Tabletten alle bekommen?“ und Opa sagt ja, dann muss ich ihm glauben. Und oft sind es die Kleinigkeiten, das merke ich. Wenn ich da bin und eine Hilfskraft ihm das Essen hinstellt, dann lege ich ihm den Kleckerschutz an, ich sorge dafür, dass er in aufrechter Position sitzt und entlagert wird, um überhaupt essen zu können. Ich prüfe, ob das Essen wie so oft schon kalt ist und ob Dinge dabei sind, die er ohne Zähne nicht essen kann, wie Brotrinde, Äpfel, Würstchen mit Pelle oder Fleisch. Wenn niemand von uns vor Ort ist, geschieht all das nicht verlässlich.

Ach, Omi. Das macht mich unglaublich traurig und wütend zugleich.

Der Grund dafür ist vermutlich, dass so eine Einrichtung unterm Strich eben ein wirtschaftlicher Betrieb ist, dass es zu wenig Pflegepersonal und für die wenigen zu wenig Bezahlung gibt. Sie haben oft keine Zeit, keine Minute Geduld, um Opi – der nun mal nuschelt und Zeit zum sprechen braucht – zuzuhören oder kurz zu prüfen, ob alles zum Essen bereit ist. Und wenn sie gestresst sind, ist Opa gestresst. Ein sich verstärkender Kreislauf. Interessant ist, dass das Haus damit wirbt, auf demenziell Erkrankte spezialisiert zu sein. Hm.

Jedenfalls vermisse ich dich unaussprechlich. Nicht nur, weil du auf Opi aufgepasst hast. Vor allem deine Liebe fehlt – ohne sie ist die Welt kälter. Aber das weißt du ja; wir haben vor deinem Tod darüber gesprochen, wie es wohl ohne dich werden würde. Wir hatten mit fast allem Recht, weißt du?

Ach, meine Omi. Ich versuche, nicht so viel zu jammern. Das Leben muss weitergehen, das hast du oft gesagt. Leicht, das kann ich dir versichern, ist es nicht. Ich hoffe aber, du hast es schön im Himmel oder wo immer du auch sein magst. Denn ganz verschwunden bist du nicht, das weiß ich genau. Also, dann bis nächste Woche!

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 15: Die Welt ohne Dich ist nicht okay]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 14: Das erste Weihnachten ohne Dich]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 13: Das letzte Weihnachten zu Hause]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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