Liebe Omi,

du bist nun seit neunzehn Wochen tot und wenn ich nicht die Tonaufnahmen von dir hätte, wüsste ich wohl bald nicht mehr, wie deine Stimme klang. Jedenfalls kann mich dein Tod nicht davon abhalten, dir jede Woche zu schreiben, was so los ist.

Also.

Ich hoffe, du sitzt grad gut auf Wolke Sieben. Denn jetzt kommt etwas, worüber du dich sehr aufgeregt hättest. Opas ältere Schwester, deine 92-jährige Schwägerin – die, die immer gesagt hat, es wäre deine Schuld, dass dein Sohn im Kleinkindalter an Diabetes erkrankt ist und dass es unsere Schuld wäre, dass Opa Parkinson hat – hat Opi angerufen und ihn ziemlich aufgeregt.

Nicht, dass sie ihn in den 133 Tagen seit deinem Tod ein einziges Mal angerufen hätte, um zu fragen, wie es ihm geht. Aber jetzt hat angeblich ihr Nachbar nachts, während sie schlief, mit der Haarnadel die Tür aufgebrochen und ihren Goldschmuck geklaut. „Das ist ein ausgebildeter Dieb!“ Sie hat Anzeige erstattet. Und ich habe am Telefon versucht, sie zu beruhigen. Ihr vorgeschlagen, mit ihm zu reden. Ihr nahe gelegt, vielleicht eine Überwachungskamera oder eine Alarmanlage zu besorgen. Einen Pflegedienst zu organisieren, der ihr im Alltag hilft. Oder einen Therapeuten zu finden, der ihre Ängste behandelt. Sie hat alles pöbelnd abgelehnt.

Und weißt du, was sie gesagt hat? „Jaja, du kannst immer so schlau reden!“ Aber was soll ich denn machen, wenn sie keine Hilfe will?

Oh, ich höre schon, wie du dich aufregst, Omi. Ruhig bleiben. Das Schärfste kommt noch.


Sie hat nämlich zu Opi am Telefon gesagt, das wäre seine Schuld – weil er nicht da ist. Kannst du dir das vorstellen? Ausgerechnet Opa! Er hat alles getan. Er ist so oft quer durch die ganze Stadt zu ihnen gefahren und hat alles erledigt. Fahrten zum Friedhof, einkaufen, tapezieren. Er kann doch nichts dafür, dass er so krank ist!

Infolge der Aufregung und des schlechten Gewissens wollte Opi die ganze Woche immer wieder aus seinem Bett aufstehen und war unruhig und verwirrt. Das jedenfalls berichtete mir am Samstag deine einstige Lieblingsbetreuerin. Ich habe ihn gefragt, wo er hin wollte.
„Na, zum Fenster“, sagte er.
„Und was wolltest du am Fenster?“
„Was wohl? Nach dem Auto gucken!“
„Nach welchem Auto denn?“
„Nach meinem!“ Da wurde er langsam lauter.
„Opi, du hast doch schon lange kein Auto mehr, wir haben es damals weggegeben. Weißt du das nicht mehr?“
„Ich hab mir aber letzte Woche für 600 Mark ein Neues gekauft!“ Jetzt brüllte er und machte wieder ein Raubvogelgesicht.
„Okay, Opi. Beruhige dich. Ich geh mal gucken“, sagte ich und ging zum Fenster.

Was da hätte passieren können! Er hätte stürzen und sich etwas brechen können. Das haben wir alles schon mit ihm durch, damals war es „nur“ eine kleine Platzwunde am Kopf.

Ich habe dann direkt deine Schwägerin angerufen und ihr davon erzählt. Damit sie weiß, dass sie besser aufpassen muss, was sie ihm erzählt und wie. „Du hast ihn sehr aufgewühlt, da muss man vorsichtig sein. Er hätte hinfallen und sich verletzen können.“ Doch alles, was sie dazu sagte, war: „Mir geht’s auch nicht gut! Ich kann nicht essen und nicht schlafen und mein ganzes Gold ist weg.“
„Ich verstehe nicht, wie du so wenig Mitgefühl mit deinem schwer kranken, kleinen Bruder haben kannst, der gerade seine Frau verloren hat. Wirklich nicht. Er hätte sich weh tun können. Ist seine Gesundheit nicht wichtiger als alles Gold der Welt?“
„Du musst mich gar nicht runterputzen! Lass mich bloß zufrieden!“
„Sehr, sehr gern, liebe Tante. Dich zufrieden lassen ist kein Problem für mich.“

Klick.

Am Sonntag war Opi dann so depressiv, dass er nicht gesprochen hat. Kein einziges Wort. Aber du kennst mich ja: Ich habe ihn wieder aufgemuntert. Erst habe ich ihn in aller Ruhe gefragt, was er hat. Er war traurig wegen dir, Omi.

Ich habe ihm also noch mal von deinem friedlichen Tod erzählt und dass es einfach Zeit war für dich. Dass du als Pflegefall kreuzunglücklich gewesen wärest und es dir jetzt im Himmel gut geht. Dass er großes Glück hatte, dich über 60 Jahre an seiner Seite gehabt zu haben. Dass er nicht allein ist, sondern noch eine kleine Familie hat, die ihn liebt. Dann habe ich ihm Pudding gegeben, Mittagessen, Torte, Vanillequark mit Banane, Schokolade. Und dann habe ich mit ihm Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt und mich 5:0 vernichten lassen.

Als ich ging, ging es ihm wieder gut. Nur ich war ziemlich leer. Aber so ist das manchmal.

Ach, meine Omi. Ich frage mich oft, was du an meiner Stelle tun würdest. Mir fehlt dein Rat, die Möglichkeit, mich bei dir auszuheulen und mich von dir trösten zu lassen. Du konntest wirklich besser trösten als jeder andere Mensch, den ich kenne. Ich vermisse dich sehr und hoffe, es geht dir gut – wo auch immer du jetzt bist. Also, dann bis nächste Woche!

Deine Jessi


[Lest auch Brief an Omi, Nr. 16: Opi hat es nicht leicht ohne dich]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 15: Die Welt ohne Dich ist nicht okay]

[Lest auch Brief an Omi, Nr. 14: Das erste Weihnachten ohne Dich]


 

Wir geben Opa nicht ins Heim
© J. Wagener

Und wer die Vorgeschichte von Omi und Opi (und so einige von Omas markanten Sprüchen) lesen will, der kann hier das Buch „Wir geben Opa nicht ins Heim – unser Jahr zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ dazu bestellen.

 

 

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