Er hört einfach nicht auf, mir zu schreiben. „Wie wäre es mit Dienstag?“ Seit Monaten planen mein Kommilitone und ich einen Tagesausflug nach New Lanark. Ja, ich habe inzwischen wirklich so was wie Freunde in Glasgow

In New Lanark, vor den Toren Glasgows, steht eine historische Textilfabrik und weil mein Kommilitone und ich bis Mai sowohl schottische Geschichte als auch Wirtschafts- und Sozialgeschichte zusammen hatten, wollten wir sie uns immer mal anschauen.

Also, haben wir jedenfalls gesagt. Aber ich hätte nicht ernsthaft gedacht, dass es wirklich dazu kommt.

Ich bin nämlich oft müde. So müde. Die Art Müdigkeit, die sich nicht mit ordentlichen acht Stunden Schlaf verscheuchen lässt. Die Art, die im Herzen sitzt, in den Knochen und im Gesicht. Die die Haare grau und die Schritte flach werden lässt. Die sich festsetzt wie Zahnstein oder Falten und schleichend zu einem Teil des Selbst wird. Die alles zu Blei-Nebel-Sirup macht und dass man manchmal nicht mal auf Nachrichten antworten kann.

Hartnäckig, aber entspannt

Mein Kommilitone ließ trotzdem nicht locker. Nicht nur, was diesen Ausflug anbelangt. „Meine Freunde und ich gehen in eine Comedy-Show. Kommst du mit?“; „Bin im Pub. Wo bist du so?“; „Komm, wir sind unter der polnischen Botschaft und trinken Haselnussschnaps!“

[Lies auch: Warum zur Hölle ausgerechnet Schottland?]

Dabei hat er nie Druck gemacht, mich nicht bedrängt, war nie beleidigt oder gekränkt, hat mir Raum und Zeit gegeben. Er hat mir einfach ab und zu gezeigt, dass er gern was mit mir unternehmen möchte. Wenn ich soweit bin.

Wir waren tatsächlich mal im Pub, das war lustig und tat gut. Auch das mit dem Haselnussschnaps haben wir gemacht, das war auch lustig und tat weh. Ja, und dann sind wir also am Dienstag im Zug nach New Lanark gefahren und haben einen ganzen Tag in der alten Textilfabrik verbracht.

Wir haben gestaunt und geredet, über Liebe und Angst und die Uni und das Leben. Er hat mir auf einer riesigen Weltkugel im alten Klassenzimmer gezeigt, wo er schon überall mit dem Fahrrad hingeradelt ist (Georgien!) und als ich glückselig mein Pfefferminzeis mit Schokostückchen angrinste sagte er: „Ha! Du siehst aus wie ein Kind!“

Es war ein schöner Tag. Und es war nicht der einzige.

Ich glaub‘, ich hab‘ Freunde in Glasgow

Neulich war ich mit der Partnerin eines anderen Kommilitonen Poster für ein Anti-Rassismus-Konzert in den Schaufenstern von Cafés und Bars aufhängen; wir waren zu dritt Curry essen und Karaoke singen und bei einem anderen Freund Tapeten abreißen. Und sie haben mir beim fünften Umzug geholfen.

Paul sowieso. Paul und ich waren nicht nur schon gefühlte 25 Mal zusammen bei Ikea und im Pub (ja, man geht hier halt oft in Pubs) – ich war auch bei seinen Eltern zum Sonntags-Dinner und das war sehr gemütlich.

 

Außerdem war ich unlängst mit meiner neuen Vermieterin und ihrer Schwester Pizza essen und als sie im Gespräch irgendwann „in meiner Wohnung ist ja der Grundriss so und so“ sagte, fiel ihre Schwester ihr ins Wort und betonte: „Das ist nicht deine Wohnung, das ist Jessicas Wohnung.“ Das war schön. Ich hatte für ihren Vater Schwarzbrot aus Deutschland mitgebracht und habe ihr den Titel „Friendlord“ verpasst.

Ja, doch, das sind alles so was wie Freunde in Glasgow.

Müde sein dürfen

Vielleicht ist man erst irgendwo richtig angekommen, wenn man Freunde gefunden hat. Menschen mit dem Potenzial wie ein Stückchen Zuhause zu werden, mit denen man auch mal länger nicht spricht oder schreibt und sich nicht wöchentlich beim Weinchen in der Hipster-Bar versichern muss, wie knorke man sich findet. Menschen, bei denen man müde oder schwach oder traurig sein darf, so viel man muss und die einen trotzdem gern haben.

Am Samstag war ich bei einer Freundin aus der Uni. Also, erst bei ihr, dann auf einer Hochzeit und dann wieder bei ihr. Wir saßen in Tüll und Spitze und mit verschmierter Mascara bis nach drei Uhr nachts in ihrem Wohnzimmer, haben Prosecco getrunken, Alexa immer neue komische Lieder aus der Vergangenheit zugerufen und waren uns einig, dass Nirvanas Heart-Shaped Box ein Meisterwerk ist. Wir haben über die Liebe und Trauer geredet, über die Uni und die Hoffnung.

Am nächsten Morgen haben wir am Küchentisch gemeinsam das letzte Glas bitterlich bereut, Virgin Marys getrunken, Rührei und Toast gegessen und dann hat sie mich verkatert angelächelt und gesagt: „Also, ich finde eigentlich nicht so leicht Freunde, ich bin da eigen.“

Genau wie ich.


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