Eines abends stand meine ältere Nachbarin vor meiner Tür. Sie hatte sich mit ihrer Tochter gestritten. Der Grund war mir schmerzhaft bekannt.

Diese Geschichte hat sich in meiner alten Wohnung in Glasgows West End zugetragen.

Es klopft an meiner Tür, nach 19 Uhr und ich erwarte weder ein Paket noch Menschen. Eine schwache Stimme fragt: „Jessica? Jessica, bist du da?“

Ich öffne die gefühlt 27 Schlösser an meinen beiden Türen. Vor mir steht die ältere Dame mit dem weißblonden Zopf, die sonst immer mit dem kleinen Hund durchs Treppenhaus geht und fröhlich grüßt. Sie atmet schnappend und zittert am ganzen Körper. Ich versuche sie zu beruhigen, um verstehen zu können, was überhaupt los ist.

„Es ist meine Tochter. Sie hat mich beschimpft und geschubst. Sie flippt völlig aus. Sie macht mir Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was soll ich denn bloß tun? Sie will ausgehen und Alkohol trinken. Aber ich finde, sie hat für heute schon genug. So habe ich sie noch nie erlebt. O Gott, o Gott…“
„Okay, ganz ruhig. Nur die Ruhe. Wir kriegen das hin, keine Sorge. Ich bin ja hier.“
„Jessica, du musst mitkommen. Du musst mir helfen“, sagt sie und atmet zwischen den Worten japsend ein. Sie nimmt meine Hand; gemeinsam steigen wir die steinernen Stufen nach oben.

Meine Nachbarin ist krank

Schon nach ein paar Schritten hyperventiliert meine ältere Nachbarin fast. Wir bleiben stehen. „Moooment“, sage ich. „Atmen wir doch mal kurz zusammen. Augen zu und langsam ein … und wieder aus… ein… und aus.“

Nach etwa dreißig Sekunden geht das mit dem Atmen schon ein bisschen besser und auch das Zittern wird weniger.

Dann kommen wir an, die Tür ist nur angelehnt. Die ältere Dame mit dem weißblonden Zopf fängt an, murmelnd zu schimpfen und huscht davon in ein anderes Zimmer hinten in der Wohnung.

Mir gegenüber steht eine Frau mit braunen, schulterlangen Haaren und einem runden Gesicht, vielleicht so 30, in Mantel und Stiefeln. Das muss die Tochter meine Nachbarin sein. Über ihren braungrünen Augen liegt ein kleiner Glanz, sie wiegt beim Stehen fast unmerklich hin und her. Da ist wirklich ein Drink im Spiel. Aber auch was anderes.

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„Hi, ich bin Jessica. Eure Nachbarin“, sage ich zwischen Sturm- und Wohnungstür zu ihr. „Deine Mama ist ziemlich aufgeregt. Was ist passiert? Wie kann ich euch helfen?“
„Ach, die spinnt. Die ist total hysterisch. Ich wollte nur eine Stunde weg und sie ist ausgerastet. Sie hat überall geklingelt und geklopft. Gott, mir ist das so peinlich“, sagt sie mit minimal schleppendem Zungenschlag.
„Nonsens! Das muss dir doch nicht peinlich sein! Das ist doch kein Problem. Aber was ist denn bloß los?“

Es stellt sich heraus: Bei ihrer Mutter ist kürlich Krebs diagnostiziert worden, sie wurde in der Vorwoche operiert und morgen soll ihre Chemo beginnen. Ihre Tochter wollte sich mit Freunden treffen und die Mutter war dagegen – deshalb haben sie sich heftig gestritten.

Wie bizarr, denke ich, ich kenne tatsächlich beide Seiten aus eigener Erfahrung. Also versuche ich zu vermitteln. So gut das eben geht bei vollkommen Fremden.

Vermittlungs-Versuch

„Okay, also, ich hatte auch mal Krebs und schätze, deine Mutter hat einfach riesige Angst. Vor dem Unbekannten. Vor den Nebenwirkungen. Fallen die Haare aus? Wie schlimm wird das alles, muss ich die ganze Zeit kotzen, wie soll ich das aushalten? Was passiert, wenn ich sterbe? Und in ihrer Verzweiflung und Not klammert sie sich an dich. Du hast vermutlich genau so große Angst, bist aber zusätzlich überfordert und erschöpft. Das ist ja aber auch alles extrem emotional aufreibend und belastend.“

Die Tochter meiner Nachbarin nickt und der Glanz in ihren Augen, das sind anschwellende Tränen, kurz bevor der Damm bricht.

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„Vielleicht würde es euch helfen, offen und mit Liebe über eure Ängste zu sprechen? Und ihr beide braucht glaube ich tatsächlich ein bisschen Zeit für euch allein. Hast du denn jemanden, der dich unterstützen und dir was abnehmen kann – Geschwister, Vater, Familie?“

Sie nickt wieder und eine Träne platscht auf den Holzboden. Der kleine Hund schnüffelt kurz daran.
„Ja, schon. Aber die kümmern sich alle nicht wirklich.“
Sie macht eine Pause und senkt den Kopf. Ihre Stimme wird ein Flüstern.
„Ich will doch nur ein Leben. Manchmal wenigstens. Bloß ein Leben…“

Mein Herz zwickt heftig und ich nehme sie in den Arm.
„Ach, Fuck. Ich verstehe das so gut, es ging mir mit meinen Großeltern genau so. Das ist alles total normal. Wirklich.“

Wir schweigen gemeinsam. Auch das schimpfende Murmeln ihrer Mama im Hintergrund ist mittlerweile verstummt.

Nur, wer selbst Kraft hat, kann helfen

„Wenn ich was tun kann… Ich bin nur zwei Stockwerke unter euch“, sage ich.
Sie zuckt mit den Schultern und ich nehme ihre Hand. Alles, was ich jetzt gerade tun kann, ist reden und trösten.

„Hör zu – deine Gefühle sind komplett berechtigt und okay. Jeder Mensch hat Grenzen, das gehört so. Und du hast ein eigenes Leben verdient, du musst ja auch mal aufladen. Deshalb brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, im Gegenteil: Nur aus einem vollen Krug kann man ausschenken.“ Ich mache eine Pause und kurz huschen all die Momente vorbei, in denen ich nicht mehr konnte. Dann raffe ich die Schultern und sage: „Im Flieger soll man ja auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen und dann erst anderen helfen.“ Ich untermale den Satz mit der „Maske zu sich ranziehen und fest auf Mund und Nase pressen“-Geste aus den Flugzeug.

Und dann lächelt sie.

Gegenseitiges Verständnis ist so wichtig

Ich hinterlasse meine Nummer für den Fall und wünsche den beiden von ganzem Herzen viel Kraft. Hoffentlich konnte ich zumindest für ein bisschen gegenseitiges Verständnis und Beruhigung bei meiner Nachbarin und ihrer Tochter sorgen. Sie tun mir aufrichtig leid.

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Ich möchte echt nicht mit ihr tauschen und ich bin so froh, dass ich das für den Moment hinter mir habe, denke ich aber auch, während ich die zwei Stockwerke runtergehe. Sekundenlang möchte mich ein schlechtes Gewissen packen, aber ich schubse es weg. Keine Chance, ich habe meinen Teil ge- und ertragen.

Ja, ich würde alles wieder ganz genau so machen, das mit Omi und Opi, aber erleben möchte ich es nicht nochmal.

Als ich wenige Tage später spontan ausziehen muss, will ich mich von meiner Nachbarin und ihrer Tochter verabschieden, steige die steinernen Stufen hoch und klopfe. Niemand macht auf.


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