Er wohnt in einer Höhle an stillgelegten Schienen an der Garden Route, die Bahngesellschaft will ihn rausklagen. Doch der Mann hat Gott auf seiner Seite – und seine unzähligen Muscheln.
VON JESSICA WAGENER
[Dieser Artikel erschien zuerst auf stern.de]
Jack kennt den Weg. Zügig läuft er über die stillgelegten Bahnschienen, die sich wie ein Collier an die steilen Küstenhänge der südafrikanischen Garden Route schmiegen. Wenn wir zu langsam werden, bleibt er stehen und blickt auffordernd über seine Schulter. Jack ist pechschwarz, ein ungeduldiger Tourguide, ein Labrador. Er gehört zum Hostel „The Beach House“, in dem meine Reisebekanntschaften und ich zwei Nächte unterkommen. Als Vollprofi weiß Jack, wohin Touristen wollen: Zum „Caveman“ – dem Einsiedler, der in der „Kaaiman’s Grotto“ zwischen Wilderness und Victoria Bay lebt und die spannendste Sehenswürdigkeit der ganzen Gegend darstellt.
Als wir bei der Höhle ankommen, steht die Sonne schon schräg. Links von uns in geschätzten zehn Metern Tiefe der Indische Ozean; rechts unzählige Muscheln. Sie sind überall vor, an und in der Höhle; als Mobiles, Vorhänge, Skulpturen, Wandschmuck. Der Herr der Muscheln heißt Clifford, hockt über einem Haufen aus Schalen und bastelt mit huschenden Fingern. Nur als Jack ihn mit einem feuchten Nasenstups begrüßt, blickt er kurz auf und lächelt.
Clifford spricht sanft, hell und leise. „Wenn man ein Loch in eine Muschel machen will, ohne dass sie kaputt geht, muss man ihre weichste Stelle finden.“ Einer der wenigen Sätze, die er uns zuflüstert. Er wirkt scheu und konzentriert, wie er da über seinen Muscheln kniet. In sich gekehrt.
Ein Erdrutsch vertrieb das Restaurant – Clifford kam
Hinter ihm erstreckt sich seine Höhle; sie verjüngt sich nach dem weit offenen Eingang und endet irgendwo in der Dunkelheit. Die „Kaaiman’s Grotto“ ist ein anarchisches Wunderland. Schlafkojen und Alkoven fragmentieren das Innere und formen dabei ein großes, staubigbuntes Stillleben. Man erkennt nicht mehr, dass sich hier im Fels mal ein Luxusrestaurant für knapp 300 Leute erstreckte. Bis 2006 der Regen kam und Erdrutsche brachte, die Gleise unbefahrbar hinterließ, die Restaurant-Gäste vertrieb. Und die Höhle frei machte für Clifford.
Wie genau der Weg des leisen Mannes aussah, bevor er die „Kaaiman’s Grotto“ annektierte – darüber weiß man wenig. Nur, dass das Leben ihn aus Kapstadt hierher gespült hat. Und dass er nicht allein kam. Er hatte Gott dabei. Jeden Tag verbringt der geschätzt Anfang 50-Jährige einige Stunden mit Bibellektüre. Doch weil Gottes Wort allein heutzutage nicht mehr reicht, fragte Clifford vor seinem Einzug den vormaligen Restaurantmanager. Der machte Clifford zum Hüter der Höhle.
Eine Aufgabe, die der Muschelmann mit fast religiöser Andacht ausübt. Alle Blumen in den Beeten zwischen dem Höhleneingang, den Schienen und der Holzterrasse über dem Meer sind kleingärtneresk getrimmt, nichts liegt herum. Kein Unrat, kein Blatt, kein Unkraut. Kein schlechter Gedanke. Jack schnüffelt ergebnislos unter dem langen Tisch auf der Terrasse.
Inzwischen hat sich in der Höhle einiges angesammelt – Spenden, Geschenke und Dinge, die niemand mehr braucht. Wir mäandern staunend zwischen detailverliebt arrangierten Inseln aus Fundstücken umher. Spruchbedruckte Plüschkissen, Puppen mit filzigem Haar, verblasste Plastikrosen in gesprungenen Porzellanvasen. Aussortiertes. Wie die Menschen, die hier leben.
Denn neben Clifford richten sich manchmal auch andere Gestrandete mit ihren Habseligkeiten ein paar Augenblicke lang in den Alkoven ein. Jemand startete sogar mal ein Blog aus der und über die „Kaaiman’s Grotto“, doch das liegt schon lange brach. Es kommen aber auch Touristen, die auf den stillgelegten Schienen zur Höhle flanieren und – gegen eine Spende – für eine Nacht oder zwei den gezähmten Nervenkitzel des Aussteiger-Abenteuers light erleben wollen.
Cliffords Muschelparadies ist bedroht
Sie alle schlafen zwischen Cliffords Muscheln. Wenn der Wind vom Meer in die Höhle haucht, klirren sie sachte. Das Leben hier ist leise; es gibt keinen Strom, keinen Fernseher, kein Radio. Wohl aber fließend Wasser und Toiletten. Gekocht wird in einer küchengleich organisierten Feuerstelle am Höhleneingang. „Der Rauch darf nicht reinziehen“, sagt ein Mann in schwarzer Outdoorjacke. Wie lange er bleiben will, weiß er nicht. Er lächelt zahnarm. „Heute gibt es Fisch.“ Selbst gefangen, natürlich.
Als die Dämmerung in die Höhle kriecht, zünden Menschenschatten Kerzen an, erschaffen eine fast sakrale Atmosphäre in ihrem Zuhause auf Zeit. Es ist eine zerbrechliche Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft. Hier leben die Stillen, die Genügsamen, die Andersartigen.
Doch das Aussteigeridyll ist in Gefahr. Die halbstaatliche südafrikanische Bahngesellschaft Transnet will Clifford aus der Höhle klagen. Dort sei es zu gefährlich für Menschen, außerdem wohne er dort ohne Genehmigung. Der Fall liegt bei Gericht, Clifford bekam einen staatlichen Rechtsbeistand. Und hat keine schlechten Chancen. Denn Dokumente belegen, dass die Bahngesellschaft zwar die Gleise und den Eingang besitzt – nicht jedoch das Höhlen-Innere. Das gehört offiziell niemandem.
Touristen und Einwohner sind auf Cliffords Seite. Denn sein Muschelgesamtkunstwerk ist mittlerweile zur Attraktion in Wilderness avanciert. Zöge der „crazy caveman“ aus, so befürchtet man, verlöre das Örtchen nicht nur an Anziehungskraft, sondern böte mit der leeren Höhle auch Kriminellen einen Unterschlupf. Sie haben den eigentümlichen, religiösen Mann vielleicht nicht im klassischen Sinne lieb gewonnen. Aber sie brauchen ihn.
Jack wartet schwanzwedelnd vor dem Eingang. Es ist fast dunkel, er will uns sicher zurück ins Hostel bringen. Clifford sitzt noch immer da. Im Kerzenschein fädelt er eine Muschel auf und fügt sie mit größter Präzision in ein Netz aus anderen Muscheln. Seine zierlichen Hände lassen nicht nach, bis sie am vorgesehenen Platz ist. Die richtige Ordnung offenbart sich nur ihm. Als ich nach seinem System frage, schweigt er lächelnd. Der Muschelmann versteckt seine weichste Stelle gut.
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