Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich seiner Endlichkeit bewusst ist. In unseren letzten Momenten vor dem Tod zeigt sich, was wirklich zählt. Protokolle, die ans Herz gehen.
VON JESSICA WAGENER
[Dieser Artikel erschien zuerst auf ze.tt]
Wir leben so vor uns hin, ärgern uns über Kleinigkeiten, ignorieren die unzähligen Wunder des Alltags und verdrängen unsere eigene Sterblichkeit. Klar, wer denkt schon gern dauernd an den Tod? Dabei kann genau der uns wie nichts anderes mit aller Schärfe zeigen, was im Leben wichtig ist. Und zwar schon jetzt, nicht erst am Ende.
Der Tod als Lebenshelfer
Der kalifornische Fotograf Andrew George hat den Tod zum Thema seines Projektes Right Before I Die gemacht und sterbende Männer und Frauen porträtiert. „Die Fotos zeigen meine Bewunderung für die, die dem nahenden Tod ins Auge schauen und das mit Akzeptanz und in Frieden tun“, schreibt er auf seiner Webseite.
George fotografierte die Sterbenden schon vor einigen Jahren in einem Hospiz in Los Angeles. Doch ihre bewegenden Worte sind zeitlos und gehen mitten ins Herz. Sie zeigen, wie unterschiedlich Menschen mit dem Tod umgehen, welche verschiedenen Werte ihre Leben geprägt haben und wer oder was ihnen auf dem letzten Weg Kummer bereitet oder Trost gespendet hat.
Kim:
„Ich habe keine Angst zu sterben, aber Angst davor, was ich tun muss, um am Leben zu bleiben. Manchmal ist Sterben leichter (…) Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen. Sie sollten ihr Leben leben, nicht sich um mich kümmern müssen (…) Meine Mutter und meine Kinder werden sich dafür an mich erinnern, dass mir andere Menschen so wichtig sind. Und ich zeige das sehr stark, weil ich denke, dass man das sollte. Ich denke nicht, dass man so etwas zurückhalten sollte, weil wir nicht wissen, wie lange wir hier sind, und wenn du jemanden liebst, solltest du es sagen. Sie müssen dich ja nicht zurücklieben, aber wenn du jemanden liebst, sollten die das wissen, weil man ja nie weiß. Du könntest durch diese Tür gehen und das war’s dann (…) Zuerst muss man lernen sich selbst zu lieben, erst dann kann man andere wirklich lieben (…) Macht euch nicht so viele Sorgen, weil sich Sorgen machen nichts anderes bringt als Stress, es ändert nichts (…) Es gibt hier so viel zu genießen und niemand genießt es (…) Ich fühle mich, als hätte ich keine Seele mehr. Als würden meine Seele und meine Lebenslust mich verlassen. Ich will das nicht, ich will fröhlich sein, frei, liebend – keine Sorgen, kein Kummer… Ich will auf der Spitze eines großen Berges stehen und schreien und dann in einen See tauchen und von allem frei sein.“
Sara:
„Was ich in den fünf Jahren meiner Krankheit gelernt habe, ist, dass Gott immer bei mir war. Die Liebe meines Sohnes hat mir Kraft gegeben weiterzumachen. Und die Liebe Gottes. Ich will weitermachen, bis Gott will, dass ich … Danke.“
Jack:
„Meine Frau war nicht meine große Liebe. Das war ein japanisches Mädchen, damals in den 1940ern. Wir kamen gut miteinander aus. Es hat Spaß gemacht, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie hatte Freude an allem, angeln am Strand, spazieren gehen im Wald. Das war, als wir 17 und 16 waren. Aber dann, während des Krieges, haben sie alle Japaner in Lager gesteckt. Wir wollten heiraten, aber die Regierung hat nein gesagt, weil wir nicht volljährig waren, obwohl es für ihre Eltern okay gewesen wäre und meine nicht mal davon wussten … Also haben wir nicht geheiratet und als ich sie das nächste Mal sah, war sie nach Utah umgesiedelt worden (…) Ich wäre ihr nach Utah gefolgt, aber ich konnte nicht genug Stempelkarten für Benzin zusammenkriegen (…) Ich bin nicht sehr glücklich damit, wie die Dinge stehen, aber nach fast 85 Jahren … Warum nicht sagen, es ist fast vorbei? Ich hatte ein paar gute und ein paar schlechte Zeiten, aber ich beschwere mich nicht. Auf Wiedersehen erst mal.“
Josefina:
„Das Leben ist das Wartezimmer für den Tod. Wir sind nur auf der Durchreise, weil man schon mit der Geburt weiß, dass man sterben wird (…) Ich fühle mich ruhig, gelassen, weil ich weiß, dass ich bald gehen werde. Also sage ich jeden Abend zu Gott: ‚Du weißt schon, was du tust.‘ Ich habe keine Angst zu sterben, ich habe viele schöne Jahre lang gelebt.“
John:
„Wenn ich an den Tod denke, dann ist das für mich der Anfang eines neuen, schmerzfreien Lebens.“
Sally:
„Heute ist Mittwoch, der 25. September 2012. Ich bin im Krankenhaus. Heute ist der Tag, an dem ich nach Hause gehe. Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich das nicht müsste. Ich fühle mich immer noch nicht so gut. Das bedeutet mehr Arbeit für mein Mädchen. Aber der Doktor hat gesagt, ich müsste nach Hause und ich fühle mich so hilflos. Unfähig, mir selbst zu helfen. Alles, was ich tun kann, ist Gott darum zu bitten, dass er ihr hilft, damit ich zu Hause nicht zu viel Arbeit verursache. Gott ist immer bei uns. Ich hoffe, ich muss nicht noch mal für längere Zeit ins Krankenhaus.“
Chuck:
„Ich habe zu Hause bei meiner Mutter und meinem Vater gewohnt, bis ich 35 war. Ich habe 39 Jahre lang für Lockheed Aircraft gearbeitet. Ich habe meine Frau 1974 getroffen, wir haben 1975 geheiratet. Wir waren 35 Jahre lang verheiratet. Sie ist im Februar 2010 an Diabetes gestorben (…) Ich habe mein Leben genossen. Zu meinen Lieblingserinnerungen gehört, wie meine Brüder und ich als Kinder Baseball gespielt haben und meine Mutter mitgemacht hat. Später, als wir auf Offroad-Motorräder standen, hat meine Mutter sich auch eins geholt und mitgemacht. Einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens? An der Spitze der Liste steht der Moment, in dem ich Sally geheiratet habe. Ich habe sie ein Jahr lang bearbeitet mich zu heiraten. Ich wusste es in dem Moment, als ich sie zum ersten Mal sah, aber sie fühlte nicht das Gleiche für mich. Es hat ein Jahr gedauert, sie zu überzeugen (…) Eines Tages sagte sie ja und das war ein wirklich schöner Tag (…) Als der Priester fragte, ob ich will, rief ich laut ‚ICH WILL!‘ (…) Liebe ist etwas tief in deinem Herzen, das du wirklich fühlen kannst. Es ist ein sehr, sehr gutes Gefühl und wirklich schön, wenn du weißt, dass jemand dich auch liebt. Schwer zu beschreiben. Liebe ist eine große Freude – man kann nichts dagegen tun, sie zu fühlen (…) Das Leben ist das, was du hier auf der Erde daraus machst und ich habe nicht immer das Beste daraus gemacht, oft aber schon.“
Ediccia:
„Als ich die Diagnose bekam, ist meine Welt zusammengebrochen. Das erste, was mir in den Sinn kam, waren mein Mann und meine Kinder. Ich wusste, dass ich Angst hatte, aber sie würden sehr leiden müssen (…) Zeit? Ich verbringe gern jede Minute des Tages auf bestmögliche Weise, das bedeutet Zeit für mich (…) Ich liebe es, morgens meine Augen zu öffnen und all die Vögel vor meinem Fenster singen zu hören – das ist die Bedeutung des Lebens für mich – und die Sonne auf meiner Haut zu spüren (…) In diesem Augenblick in meinem Leben fühle ich mich gesegnet mit all den wunderbaren Menschen, die mich auf dieser Reise begleiten. Neue Freunde, alte Freunde und Verwandte, die man normalerweise nur an Feiertagen sieht und die nun zu jeder Tages- und Nachtzeit bei mir sind, wenn ich das Gefühl habe, dass ich eine Hand zum Halten brauche. Meinen geliebten Ehemann Raymond immer an meiner Seite zu haben, in guten und in schlechten Zeiten. All die Geduld, die er während dieser schweren Reise hatte. Meine wunderschönen Jungs, Alfonso, 18 Jahre und Alexander, 17 Jahre, die immer noch Teenager sind. Diese Situation – das muss sehr schwer für sie beide sein. Aber sie sind trotzdem noch gut in der Schule und versuchen, ein normales Leben zu führen wie ihre Freunde. Ich bin auch sehr dankbar für meine Mutter, sie war die ganze Zeit für mich da, und ich will, dass sie weiß, wie sehr ich sie liebe und wie dankbar ich für ihre Hilfe bin (…) Ich danke euch allen aus tiefstem Herzen. Ich werde euch immer lieben. Und natürlich ein besonderes Dankeschön an Gott, der mir all das gegeben hat (…) Ich bin hoffnungsvoll, weil ich nicht aufgeben habe. Mein Glaube ist tief und ich weiß, was auch immer passiert: Gott wird entscheiden, wann ich gehen werde, nicht meine Ärzte.“
Joseph:
„Ich fühle mich wie der glücklichste Mann der Welt. Ich habe eine wundervolle Ehefrau, einen wunderbaren Sohn und eine Tochter, großartige Enkelkinder und Urenkel. Niemand könnte mehr verlangen als das.“
Irene:
„Wenn das kein Glück ist! Ich bin aufgewacht, habe meine Augen geöffnet und tief eingeatmet. Ich bin am Leben. Ich bin glücklich, gesund, geliebt, zufrieden und dankbar. Ich glaube, man ist, was man zu sein glaubt. Ich bin wundervoll. Ich bin gesegnet. Ich bin hier. Ich habe den besten Ehemann der Welt. Ich habe zwei Kinder, Nanette und Aaron. Ich habe sechs Enkelkinder. Ich habe eine Schwiegertochter und einen Schwiegersohn. Worum sonst könnte ich noch bitten? Ich habe das Leben.“
Abel:
„Ich will mich suhlen im Warum-Ich, aber ich will auch auf der anderen Seite als Gewinner ankommen. Warum fühle ich mich so unvorbereitet? (…) Ich glaube dass die Tür sich öffnet; wir kehren zurück, wenn wir die Aufgabe erledigt haben, für die wir hierhergeschickt wurden.“
Michael:
„Ich habe Gott 40 Jahre lang gedient (…) Ich habe immer gesagt, Gott spart das Beste fürs Ende auf – das Krankenhaus war ein Segen für mich und meine Familie. Ich danke Gott für all die Ärzte, Schwestern, Mitarbeiter, Reinigungskräfte – jeder von ihnen machte unseren Aufenthalt hier zu einem kleinen Stück vom Himmel. Meine Familie ist nun bereit, mich nach Hause gehen zu lassen, ich sehe meinen Gott Christus bald. Gott segne alle, die an dieser Botschaft teilhaben. Ich musste hierherkommen, um bereit zu sein. Gott segne euch.“
Nelly:
„Nach meiner Diagnose hörte ich auf, Medikamente zu nehmen – ich wollte nur sterben. Ich habe jeden Tag geweint und wollte nichts mehr tun. Ich habe all meine Sachen weggeben (…) Dann habe ich irgendwann gesagt ‚Okay, ich kann singen und ich kann unterrichten.‘ Das sind die einzigen Dinge, dich ich wirklich gut kann, also meldete ich mich im Seniorenzentrum an und habe für die Älteren gesungen. Ich habe es mir ausgesucht, weil dort Menschen sterben und die Hoffnung verlieren. Eines Tages habe ich festgestellt, dass ich Menschen glücklich mache und dadurch selbst glücklich werde. An dem Tag habe ich zu leben begonnen (…) Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe – vielleicht heute? Vielleicht ist morgen mein letzter Tag. Ich bin aber eigentlich sehr glücklich und ich bereue nichts, obwohl ich durch die Hölle gegangen bin. Soweit ich weiß, habe ich in meinem Leben erreicht, was ich erreichen wollte (…) Ich bin in einer Phase meines Lebens, in der es scheint, als wenn alles gut werden würde. Ich bin so glücklich und zufrieden und ich glaube, dass das Morgen vor mir liegt. Da ist ein Licht, das über meinem Kopf leuchtet und mir sagt, dass ich wunderschön und strahlend bin und dass ich Dinge zu tun habe und endlich alles gut wird und morgen ist erst der Anfang für mich. Ein Hurra fürs Leben!“
Wanda:
„Ich habe keine Angst. Ich fühle Frieden, weil ich alles getan habe, was ich tun wollte und versucht habe, der bestmögliche Mensch zu sein. (…) Ich bin okay. Mein lieber Sohn, hier bin ich nun mit 84 und frage mich, was ich in einem Jahr tun werde, falls ich dann noch hier bin. Mein Leben war auf manche Weise gut und nicht ganz so gut auf andere. Mein Glaube, meine Liebe zu anderen, meine Kinder und meine Freunde haben mich weitermachen lassen. Ich war die beste Mutter, die ich sein konnte. Meine Eltern waren wundervoll. Ich war so gesegnet.“
Sarah:
„Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe, weil ich nicht der Typ Mensch bin, der gern so denkt. Ich bin stur; ich werde bis zum bitteren Ende kämpfen. Was auch immer passiert, es wird eine andere Option geben. Vielleicht haben wir noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Vielleicht können wir noch etwas neues ausprobieren? Ich habe nichts dagegen, dass mit mir experimentiert wird, aber ich habe etwas dagegen, aufgeben zu werden (…) Ich kann nicht wirklich darüber nachdenken, was fair ist – fair ergibt keinen Sinn. Die Dinge sind nicht fair oder unfair, das Leben ist eben so (…) Das Leben ist definitiv nicht unendlich. Man weiß nie, was passiert und man muss echt auch mal Risiken eingehen. Ich habe damit erst Ende Zwanzig angefangen und habe das Gefühl, dass ich etwas verpasst habe. Ich habe Beziehungen verpasst. An der Uni, wenn Leute ihre große Liebe finden oder dramatische Affären haben – ich hatte das nie. Also, ich hatte eine Zeit lang einen Freund und ich mochte ihn sehr. Das war das erste Mal, dass ich mich mit jemandem wirklich, wirklich wohlgefühlt habe. Nach meinem Abschluss schickte meine Mutter mich auf eine Rucksacktour durch Europa. Er wollte danach wieder mit mir zusammen kommen, aber ich hatte zu große Angst, ich wußte nicht, was ich tun sollte (…) Ich habe ihn auf Facebook wiedergefunden, aber er ist verheiratet und ich wollte sein Leben nicht stören. ‚Hi … übrigens, Ich habe Krebs.‘ Es ist 14 Jahre her, dass wir Kontakt hatten (…) Er war ein wundervoller Mensch, aber ich habe der Sache nie eine Chance gegeben. (…) Zeit ist so kostbar. Gott, sie ist kostbar …“
Ralph:
„Es war ein gutes Leben (…) Es war ein erfülltes Leben. Ich hatte zwei wunderbare Ehefrauen, Beth und Pauline, und neun wundervolle Kinder: Marsha, Linda, Theresa, Bruce, Donna, Jennifer, Bijan, Jim und Kurt. Wir haben neun Urgroßenkel in dieser Familie. Um ein gutes Leben zu leben, habe ich versucht, der Philosophie meiner Mutter zu folgen, und habe ihr auch ein paar Dinge hinzugefügt:
1. Wache jeden Morgen auf und danke Gott für gestern. Danke ihm für all das, was dir gegeben wurde und bitte ihn für heute um Hilfe. Bitte ihn auch darum, dir zu helfen, das Gestern zu vergessen, es ist vorbei. Gestern ist ein vergangener Tag. Heute ist neu.
2. Vergiss gestern – lebe heute.
3. Liebe jeden, den du triffst, egal, wer sie sind oder was sie tun, versuche sie zu lieben und versuche ihnen ein Gefühl der Liebe und Akzeptanz zu geben.
4. Übernehme Verantwortung für dein Handeln und deine Worte. Es ist wichtig, dass du andere nicht für deine Fehler verantwortlich machst. Wenn du etwas Schlechtes sagst, etwas Schlechtes tust, akzeptiere das. Wenn du jemanden verletzt, bitte um Vergebung.
5. Sei nett zu Menschen. Nimm sie so, wie sie sind und nicht, wie du denkst, dass sie sein sollten – wer auch immer sie sind, so sind sie. Mache sie zu deinen Freunden, wenn du kannst. Und je mehr du deine Freundschaften stärkst, desto glücklicher wirst du, das garantiere ich.
Wenn du all diese Worte meiner Mutter befolgst – übrigens, ihr Spitzname war Nana –, dann wird dir das ein schönes Leben bescheren. Vertrau mir, es funktioniert! An alle: Befolgt die Weisheit meiner Mutter, sie wirkt!“
Weitere Arbeitsproben von Jessica Wagener gibt’s hier im Portfolio auf Torial.
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