„Wenn schon Alleinachten, dann mit Baum“, dachte ich auf dem Rückweg von der baumvertickenden schottischen Version eines Spätis. Dann fiel mir ein: Ich habe gar keinen Baumständer. Fuck.

Tja, das ist das Problem mit Impuls-Handlungen: Sie sind so wenig durchdacht. Ich wollte für mein erstes Alleinachten hier in Glasgow unbedingt spontan einen Baum, nur wenige Tage vorm Fest. Ganz klein sollte er sein, bloß symbolisch. Um mir selbst zu beweisen: Ich kann auch alleine ein schönes Weihnachten haben. Ohne Omi und Opi, ohne Schwester, ohne Familie und Freund*innen.

Ich kaufte den allerwinzigsten, den der beschnauzerte Verkäufer in der Gasse hinter dem Schotten-Späti aus den meterhohen Tannen zerrte. Er war so groß wie ich und ich bin über 1,70. Ich nannte ihn vollkommen grundlos „Harold“.

Erst danach erinnerte ich mich daran, dass ich ja aufgrund von Auswanderung und anderen Lebensverwerfungen überhaupt nicht für einen Baum ausgerüstet war. Keine Lichterkette, kein Weihnachtsbaumständer, keine Kugeln, nix. Entsprechende Geschäfte in unmittelbarer Umgebung waren mittlerweile leergekauft. Mir blieb also nur der Prime Deal mit dem Teufel. Denn ohne Ständer, das weiß man ja, ist alles nichts.

Ein kleines Wunder zu Alleinachten

Vermutlich bin ich bei einem meiner Spaziergänge von einer Pinterest-Mum gebissen worden, denn ich überbrückte die Wartezeit auf den Weihnachtsbaumständer mit besessenem backen und basteln. Ich machte Schokocrossies mit Weihnachtsschokolade und Mürbeteigplätzchen mit Streuseln und Zuckerguss.

Also nicht, dass ich noch Kekse gebraucht hätte; auf meinem Kühl- und in meinem Vorratsschrank türmten sich Kuchen und Konserven – fast so, als stünde ein No-Deal-Brexit vor der Tür oder Lastwagen in Kent wegen pandemiebedingter Grenzschließungen im tagelangen Stau. Oh, wait.

Außerdem fertigte ich verschiedenste Sterne aus altem Pack- und Geschenkpapier, trocknete Orangen, flocht eine Girlande, bastelte Gestecke, Baumschmuck aus Oblaten und Tütchen mit Spitzenverzierung, gefüllt mit Nüsschen und Keksen. In drei der neun Tütchen steckte ich auch Lindor-Kugeln, vergaß aber sogleich, in welche. „Ich kann mich tatsächlich selbst überraschen“, dachte ich und dabei wäre mir vor Lachen fast das Nougatröllchen aus dem Mundwinkel geplumpst. Das lange Alleinsein hat eindeutig so seine Nebenwirkungen. Unterdessen lief im Hintergrund der Lore-Podcast, Weihnachten ist schließlich die beste Zeit für Gruselgeschichten.
 
Mehr Furcht als jede Horrorstory löste in mir aber der Gedanke aus, dass mein Baumständer vielleicht doch nicht mehr rechtzeitig eintreffen könnte. Dann, so befand ich, wäre mein Alleinachten ruiniert. Und deshalb sagte ich am geplanten Liefertag auch eine der seltenen Social-Distance-Spaziergangsanfragen ab, drehte den Podcast leiser, widmete mich dem Hausputz und harrte mit einem Ohr aufmerksam dem Klingeln.
 
Nichts. 
 
Als es gegen 17 Uhr nachmittags noch immer keine Spur von meinem Weihnachtsbaumständer gab, überprüfte ich misstrauisch das Tracking. Ergebnis: zugestellt um 12:41 Uhr an „resident“. Fieberhaft riss ich die Tür auf – Fußmatte leer. Kein Zettel, kein Name. Panik breitete sich in meinem Brustkorb aus.
 
Ich schnallte mir kurzerhand die Maske um und klingelte bei meinen Nachbarn (aus der Reihe „Sätze, die vor 2020 fragwürdig geklungen hätten“). Diejenigen, die zu Hause waren, schüttelten die Köpfe. In meiner Verzweiflung druckte ich sogar einen Zettel aus und hängte ihn ins Treppenhaus: „missing tree stand“. Der Nachbar im Erdgeschoss schickte mich in eine Firma hinten im Haus; die Firma hinten im Haus schickte mich zum Nachbarn im Erdgeschoss. Keiner wusste was von einem Paket. 
 
In meiner Aufregung rief ich beim Teufel an. Dort war man sehr freundlich und zuvorkommend, wusste jedoch auch nichts vom Verbleib meines Weihnachtsbaumständers. Allerdings riet man mir zur Bestellung eines ähnlichen Modells, das auf jeden Fall an Heiligabend geliefert würde. Sagte man so. Mein Vertrauen war mittlerweile allerdings schwer angeknackst. Doch hatte ich eine Alternative? Wohl kaum. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln mitten in einer Pandemie die Stadt fahren – nicht mit mir.
 
Harold war inzwischen geliefert worden (auch die Lichterkette war schon da) und stand in prachtvollstem, buschigsten Grün an die Wand gelehnt im Wohnzimmer. So konnte ich ihn unmöglich stehen lassen geschweige denn schmücken. Das wäre ein ziemlicher Tiefpunkt, selbst für 2020: „Sie wollte sich ein schönes Alleinachten machen, hat aber jämmerlich versagt. Schön blöd.“ Hatte ich mir mit diesem Spontan-Baumkauf quasi selbst ins Bein gehackt? 
 
Zwischenzeitlich fing ich eine Zustellerin im Treppenhaus ab und fragte sie nach dem Code auf dem Paket, nach Infos, nach irgendwas. Aber auch sie konnte mir nicht weiterhelfen.
 
Gute 12 Stunden später, ich hatte die Hoffnung schon so gut wie aufgegeben, klingelte es an der Tür. 
 

I wish me a merry Christmas

Vor mir stand ein junges Pärchen, beide vorbildlich mit Masken. Sie würden ein Stück die Straße runter auf der gegenüberliegenden Seite wohnen, sagten sie. Und überreichten mir ein viereckiges, relativ schweres Paket – mein Weihnachtsbaumständer! Also, einer von den beiden. Bin mir sicher, sie hielten mein Quietschen, die Freudentränen in meinen Augen und meine „EIN WEIHNACHTSWUNDER“-Rufe für eine fast angemessene Reaktion.
 
Innerhalb von nicht mal 30 Sekunden hatte ich Harold aufgestellt. Ganz alleine, ohne Probleme und dritten Arm. Ich brachte die Lichterkette an und bewarf ihn mit all den Dingen, die ich in den Tagen zuvor gebastelt hatte. Am Ende stand vor mir der allerschönste Weihnachtsbaum, den es je gegeben hat. Er war einfach in jeder Hinsicht perfekt. Perfekte Größe, perfekte Nadeln, perfekte Form, perfekt geschmückt. Und ich? Ich war glücklich.
 
 
 
 
 
 
 
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Die Weihnachtsfeiertage selbst verflogen schneller als der Vorsatz „Morgen esse ich aber echt mal Salat“. Ich begann jeden Tag mit Champagner, schlemmte Zimtröllchen, Kekse und Lachs, schaffte es, zwischendurch noch ein Brot zu backen und ein professionelles Drei-Gänge-Menü so auf den Teller zu klatschen, dass es wie selbstgekocht aussah, und war außerdem ständig per Videocall mit lieben Menschen zusammen. Es wurde gegessen, gelacht, gequatscht, mehr gegessen, geweint, gesungen, wieder was gegessen und unter dem Einfluss von Rumtopf und dirty Espresso-Martinis Familientraumata aufgearbeitet und Breakdance-Einlagen erwogen. Vor dem Essen. Man muss, so habe ich in diesem Jahr gelernt, gar nicht irgendwo hinfahren, um sich bis zum Platzen voll zu fressen.
 
Kein Tag, an dem ich nicht leicht einen sitzen und einen vollen Bauch gehabt hätte. Kein Tag, an dem ich mich einsam gefühlt hätte. Kein Tag, an dem ich Harold nicht bewundert hätte. So hatte ich mir mein erstes Alleinachten vorgestellt. Gemütlich und schön. Und mit Baum. 


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