Der A 380 ruckelt vom Gate zur Startbahn und ich blicke durch das Bullauge auf die vergangenen eineinhalb Jahre. Der kalte Kunststoff der Wandverkleidung reibt an meiner Schläfe. Ich sitze in einem Flugzeug, spüre tiefe Dankbarkeit und bin dabei, all die Orte zu bereisen, die ich schon immer sehen wollte – mein größter Wunsch wird wahr.

Ich erinnere mich, wie ich diese Orte zum ersten Mal in der richtigen Reihenfolge aufgezählt habe: vor der fünfstündigen Operation im März, dem letzten von insgesamt fünf Eingriffen im Zeitraum von einem Jahr.

Ich auf der OP-Liege, die Haare unter einer Haube zusammengeknüllt, nackt bis auf ein grünes Laken. Das Plastik der automatisch pumpenden, luftbefüllten Strümpfe reibt an meinen Beinen. Alle Zugänge gelegt, Beruhigungspille im Blut. Ready for surgery. Routine wie das Fliegen. Ich habe vor beidem keine Angst mehr, ich kann ohnehin nichts machen. Nur loslassen und hoffen, dass alles gut geht. „Sie werden jetzt müde; zählen Sie von 100 an rückwärts.“ Aus der Ferne zupft die Stimme der Anästhesistin an meinem Trommelfell. „Ich hab‘ eine bessere Idee“, wispere ich. „New York, New Orleans, Miami, Cancun, Kuba, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Kap-…“

Ready for Take-off

Der Airbus hält, wir stehen am Anfang der Startbahn. Alles vibriert, gedrosselte Kraft  um mich herum und in mir drin. Das ist der Moment. Meine Moleküle schwingen vollkommen synchron mit der Oszillation der Flugzeugmotoren. Ready for Take-off.

Die dunkelblaue Fleecedecke auf meinem Schoß hat plötzlich einen Fleck. Bestimmt Kondenswasser. Die Erinnerungen kommen alle noch mal vorbei um sich winkend zu verabschieden: Die Diagnose, die Untersuchungen, die Operationen, die Behandlungen, die Nebenwirkungen, die Komplikationen, der Heilungsprozess, der ganze unsagbare Horror. „Tschüs. Fickt euch hart, ihr Drecks-Erinnerungen“, flüstere ich.

Und ich erinnere mich der Menschen.

Leute, die lieb zu mir waren.
Leute, die nicht lieb zu mir waren.

Personen, die mich überrascht haben.
Personen, die mich enttäuscht haben.

Herzen, die mich verstanden und gehalten haben.
Herzen, die mich nicht verstehen und nicht mehr halten konnten.

Die, die zu mir hielten.
Die, die mich verlassen haben.

Wunden, die verheilt sind.
Wunden, die nie mehr verheilen werden.

Zauberhafte Augenblicke.
Lachbauchschmerzen.
Tränenflüsse.
Tragische Momente.

Einsamkeit. Flucht. Kampf.

Die Guten begleiten dich an den Ring. Die richtig Guten sind mit in deiner Ecke. Doch nur die Allerbesten bleiben bis zum Ende. Und selbst sie können nicht für dich boxen.

Abschied in Dankbarkeit

Weil ich mit den eingeschweißten Kopfhörern knistere, hört mein Sitznachbar mein gelegentliches Schniefen nicht, rede ich mir ein. Unvermittelt springen die Turbinen an, ihr Dröhnen lässt das Flugzeug beben. Wir beschleunigen, die Fliehkräfte drücken mich in meinen ordnungsgemäß aufrecht gestellten Sitz.

Kribbelnde Euphorie schießt vom Herzen aus durch meinen Körper, explodiert in alle Winkel bis in meine Haar-, Fuß- und Fingerspitzen, brodelt in meinem Blutkreislauf. Ich lächle mit salzigen Mundwinkeln. Und mich durchdringt von oben bis unten ein einziges, einfaches Wort – das Gegenteil von Tod und Trauer, die Affirmation allen Lebens: JA.

Dann ziehe ich das Plastikrollo runter und schließe meine Augen.


Texte, die dich auch interessieren könnten:


PS: Ich bin freie Journalistin, Autorin und Studierende und das Betreiben dieses Blögchens kostet – genau wie alles andere im Leben – ein wenig Geld. Wer also mag, kann hier via Paypal ein bisschen Trink-, äh, Schreibgeld dalassen. Dankeschön! <3

Startseite » Blogposts » Reisen » Weltreise-Start mit Fensterplatz